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Anstieg der Nahrungsmittelpreise: verantwortlich sind WTO und Spekulanten

[i]Hinter dem fiktiven Namen des Autors verbirgt sich
ein hochrangiger französischer Agrarexperte.[/i]

[hr]

 

Die Agrarpreise boten den Bürgern in Europa bis vor kurzem
keinen Anlaß zur Sorge, denn dank der Produktivitätsfortschritte waren die
realen Preise rückläufig, und das trug dazu bei, daß der Anteil der Ausgaben
für Lebensmittel an den Lebenshaltungskosten sank. Das änderte sich abrupt mit
der Explosion der Rohstoffpreise seit 2006, die sich seit Ende 2007 auch
zunehmend auf die Einzelhandelspreise auswirkt. Die Marktturbulenzen des Jahres
2007 stellen eine in der jüngeren Geschichte noch nie dagewesene
Herausforderung dar. Dabei geht es nicht nur um die Kosten der Nahrungsmittel.
Nach einer Periode gewisser Fluktuationen in einer allgemein stabilen Tendenz
seit dem ersten Ölpreisschock 1973 kam es Ende der neunziger Jahre zu einer
wahren Explosion der Rohstoffpreise (nach dem Index von CCI Reuters eine
Vervielfachung um den Faktor 2,6, nach dem von Cyclope sogar um den Faktor 5).
Wohlgemerkt ist der Erdölpreis, der von 10 $ pro Barrel 1999 auf mehr als 100 $
Anfang 2008 angestiegen ist und sich allein 2007 verdoppelt hat, für einen
großen Teil dieses Anstiegs verantwortlich, doch die Agrarpreise folgten dem Trend.

Auf den Weltmärkten (wo die Preise in Dollar festgelegt
werden) erfuhren die gehandelten landwirtschaftlichen Grundprodukte - Getreide
und Milchprodukte (Butter und Magermilchpulver) - eine nahezu ebenso explosive
Preisentwicklung. Der Weizenpreis verdreifachte sich seit 2005, die Preise für
Milchpulver und Butter haben sich 2007 verdoppelt. Seit Anfang des Jahres ist
auch Reis von der Preisexplosion betroffen. Und, was vollkommen neu ist, diese
Preissteigerungen wirken sich auf die europäischen Preise aus (durch die
Entwicklung des Euro-Dollar-Wechselkurses sind die Steigerungen nicht ganz so stark).

Die Experten führen zur Erklärung dieser Lage mehrere Gründe
an: schlechte Wetterbedingungen in großen Exportnationen (für Australien bei
Milchprodukten), steigender Lebensstandard in Entwicklungsländern, der höhere
Erzeugung erfordert, und eine massive Steigerung der Produktion von
Biotreibstoffen. Der letzte Punkt ist besonders für den Mais in den USA zutreffend.

Diese drei Faktoren spielen sicherlich ihre Rolle, aber
immer mehr weist man auf die Spekulation als verstärkendes Element. Natürlich
können die Terminmärkte, die bisher den Händlern als Sicherung gegen
Preisschwankungen dienten, in Krisenzeiten wie der jetzigen auch von
Spekulanten benutzt werden, die auf Hausse oder Baisse setzen und damit die
Instabilität noch weiter erhöhen.

Solche Turbulenzen sind nichts völlig neues. Seit der Antike
unterliegt die Landwirtschaft immer Ernteschwankungen durch die
Wetterbedingungen, die regelmäßig Hungersnöte hervorriefen (siehe die
Geschichte der Plagen, die in der Zeit Moses über Ägypten hereinbrechen, die
„mageren Kühe“ der Bibel). In jüngerer Zeit lieferte die Krise von 1929 die
Gelegenheit, die Auswirkungen von allgemeinen Wirtschaftskrisen auf die
Agrarmärkte zu erforschen. Die Wirtschaftsberater Franklin Roosevelts stellten
als erste Theorien zur spezifischen Funktionsweise der Agrarmärkte auf, die
immer inneren Schwankungen ausgesetzt sind (u.a. in Verbindung mit der stetigen
Nachfrage und mit dem Zeitunterschied zwischen der Entscheidung zur Aussaat und
der Ernte unabhängig von einzelnen Wetterfaktoren). Im Unterschied zur
klassischen Theorie der unsichtbaren Hand regeln sich diese Märkte also nicht von selbst.

Das führte zur Einsicht in die Notwendigkeit einer
staatlichen Regulierungspolitik und ihrer Verwirklichung in den USA ab dem Jahr
1933. Frankreich orientierte sich an diesem Beispiel und schuf 1936 eine erste
staatliche Regulierungsbehörde, das Weizenamt (Office du blé). Nach dem Krieg
wurden weitere Interventionsorgane geschaffen, die Schritt für Schritt auch
andere landwirtschaftliche Produkte abdeckten: 1953 die SIBEV (Société
Interprofessionnelle du bétail et des viandes = Gesellschaft der Vieh- und
Fleischwirtschaft umfassenden Berufe) und für Milchprodukte 1955 die Interlait.

Ab 1960 gingen diese Organe dann im gemeinsamen europäischen
Agrarmarkt auf, in dem, was man heute als Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)
bezeichnet. Es ging damals darum, die Erzeugung zu fördern, um einen bestimmten
Grad der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu erreichen. Man wollte
verhindern, daß konjunkturelle Überschüsse zu einem Preisverfall führten,
daraufhin in den folgenden Jahren weniger angebaut würde und so eine
verhängnisvolle Spirale wechselnder tiefer und hoher Preisausschläge entstünde,
was für Verbraucher wie Erzeuger ungünstig wäre.

Die Untersuchung der Preisentwicklung innerhalb der
Europäischen Union zeigt, daß die Gemeinsame Agrarpolitik sich als hochwirksam
bewährt hat. Die Mittel, die eingeführt wurden, um für diese Regulierung zu
sorgen, bedeuteten aber auch nicht, daß es sich um eine Verwaltungswirtschaft
gehandelt hätte. Es handelte sich im Gegenteil um eine Kombination der Vorteile
einer Interventionspolitik mit den Vorteilen eines freien Funktionieren des
Marktes innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums: ausreichende Einkommen
gewährende Preisvorgaben, die jedes Jahr neu festgelegt und angepaßt wurden, um
dem Produktivitätszuwachs Rechnung zu tragen; ein durch einen Zollschutz
garantiertes Preisniveau, um zu vermeiden, daß zu Niedrigpreisen importierte
Produkte die Preise abstürzen lassen; sowie eine Lagerhaltung von Überschußmengen.

Diese Mechanismen haben trotz ihres fortschreitenden Abbaus
durch den Druck der Welthandelsorganisation (WTO) bis vor einigen Jahren dafür
gesorgt, daß der europäische Markt vor den Fluktuationen des Weltmarkts (sowohl
Preissteigerungen als auch Preisverfall) geschützt war.

Die WTO-Verträge fordern eine Verringerung der Unterstützung
für die Landwirtschaft, die für eine Verzerrung des Handelsgeschäftes
verantwortlich gemacht wird. Das zielt im wesentlichen auf die reichen Länder
ab, die die Mittel haben, ihrer Landwirtschaft zu helfen, und die beschuldigt
werden, damit die Weltlandwirtschaft zu destabilisieren. Die
aufeinanderfolgenden Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik seit 1992 waren zu
großen Teilen eine Antwort auf diesen internationalen Druck. Obwohl es die
traditionellen Instrumente der Gemeinsamen Agrarpolitik weiter gibt, wird ihre
Anwendung immer mehr eingeschränkt, um den WTO-Verträgen Genüge zu tun, die
Kürzungen für die drei großen Unterstützungsbereiche vorsehen: Schutzzoll,
Exportsubventionen und interne Ausgleichszahlungen (Paritätspreise oder
Direkthilfen). Faktisch hat die Europäische Kommission ihre Absicht kundgetan,
die Marktintervention auf ein Minimum zu begrenzen. In einem Bericht vom Juli
2007 beglückwünschte sie sich zur endgültigen Auflösung der Getreidevorräte,
als die von der EU gehaltenen Getreidevorräte von 18 Mio. Tonnen im Jahr 2004
auf null 2006 zurückgingen. Auch die Interventionsbestände an Butter und
Milchpulver sind 2007 auf null gefallen.

Bedauerlicherweise, denn gerade jetzt hätte man diese
Bestände gut brauchen können, um dem Preisanstieg auf den Märkten Einhalt zu gebieten.

Indem sie kapitulierte, verstieß die GAP gegen ihre in den
Römischen Verträgen von 1957 festgesetzte Aufgabe, eine angemessene Bezahlung
der Erzeuger wie auch günstige Preise für die Verbraucher sicherzustellen.

Europa verfügt immer noch über Regulierungsinstrumente, hat
es aber aus ideologischer Verblendung und fehlender Voraussicht zukünftiger
Entwicklungen aufgegeben, davon Gebrauch zu machen. Man kann nur wünschen, daß
die aktuelle Situation die europäischen Entscheidungsträger zum Nachdenken
bringt, kurz vor einer Reform, die, wenn es nach den Verfechtern der liberalen
Freihandelsvision geht, eine weitere rücksichtlose Demontage der organisierten
Märkte bedeuten würde.

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