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Weltweite Flüchtlingszahl jetzt 66 Millionen: „Die nächsten 50 Jahre unseres Planeten“

Offener Brief an Bundespräsident Steinmeier

Von Helga Zepp-LaRouche

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Steinmeier,

mit großem Interesse habe ich gelesen, daß Sie in Ihrer Rede an der Singapore Management University am 2. November den Umstand aufgegriffen haben, daß an sechs singapurischen Universitäten eine Vortragsreihe unter dem Motto „Imagining the Next 50 Years - Wo stehen wir in 50 Jahren?“ veranstaltet wird. Und Sie kommentierten das mit den Worten: „Ich finde, das ist eine mutige Initiative - eine, wie wir sie auch in Deutschland öfter ergreifen sollten: einen Blick durch das Fernrohr in die Zukunft zu wagen, statt sich am Tellerrand des nächsten Tages, der nächsten Jahresbilanz oder der nächsten Wahlen zu orientieren.“

Das von Ihnen zu hören, ist allerdings ein Hauch frischen Windes, und man kann nur hoffen, daß er stark genug ist, bis zu den Koalitionsverhandlungen nach Berlin herüberzuwehen!

Ich möchte Ihnen anläßlich Ihrer Singapurer Rede das Buch meines Ehemanns, Lyndon LaRouche, mit dem Titel Die kommenden 50 Jahre zusenden, das er 2004 verfaßt hat. In diesem Buch nimmt er die ganze gegenwärtig sichtbare Verlagerung der strategischen Dynamik nach Eurasien vorweg und definiert die höhere Ebene des Denkens, auf der eine friedliche Zusammenarbeit der Menschheit geschehen kann. Dieses Buch ist in vielen asiatischen Staaten übrigens sehr populär.

Am gleichen Tag, an dem Sie Ihre Rede vor den Studenten in Singapur hielten, sprach der UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, Fillipo Grandi, vor dem UN-Sicherheitsrat in New York und wies auf den alarmierenden weltweiten Anstieg der Flüchtlingszahlen hin, die von 2009 bis heute von 42 auf 66 Millionen Menschen zugenommen haben, ein Anstieg von beinah 70%. Das sind beinahe so viele Menschen, wie in ganz Deutschland wohnen! Grandi richtete einen dringenden Appell an den Sicherheitsrat, mehr zu tun, um die Ursachen der Flüchtlingskrise zu beheben, konkurrierende Interessen würden durch Stellvertreterkriege ausgetragen, statt durch Diplomatie und Dialog gelöst zu werden, der Fokus liege auf kurzfristigen Interessen, statt auf langfristiger kollektiver Stabilität. „Haben wir die Fähigkeit verloren, den Frieden zu verhandeln?“, forderte er die Sicherheitsratsmitglieder heraus. Es gehe um das Schicksal von Millionen traumatisierter Kinder, die schreckliche Greuel erlebten, einer Ausbildung beraubt seien und in eine ungewisse Zukunft blickten, um Frauen, die kaum für ihre Kinder sorgen könnten, und alte Menschen, die in fremden Ländern sterben müßten.

Die entscheidende Frage, die sich für die Menschheit stellt, ist also: Kann die Weltgemeinschaft diesen Trend umkehren, eine humanistische Lösung für die Flüchtlingsfrage finden, wirklichen Frieden etablieren? Diesbezüglich sind auch Sie persönlich, als ehemaliger Außenminister und gegenwärtiger Bundespräsident eines wichtigen Staates, herausgefordert.

Dann haben Sie in Ihrer Rede in Singapur durchaus selbstreflexiv gesagt: „Viele, die dieser Tage auf die Europäische Union oder die Vereinigten Staaten schauen, sagen: ,Na, das sieht ja nicht gerade harmonisch aus!’ Und viele, die nach China blicken, sehen dort Stabilität und Wirtschaftswachstum, und das ohne eine Bewegung in Richtung größerer politischer Freiheit. Deshalb ist China eine Herausforderung für den Westen - nicht nur eine wirtschaftliche und geopolitische Herausforderung, sondern auch eine ideologische.“

Das ist zweifellos wahr, aber vielleicht auf eine andere Weise, als viele im Westen denken. Was wenige im Westen bisher auch nur ansatzweise begonnen haben, ist eine ehrliche Analyse, warum es in der EU nicht harmonisch ist, und zu versuchen zu verstehen, warum es in China Wachstum und Stabilität gibt und warum die Chinesen vielleicht politisch freier sind, als die meisten Menschen im Westen. (Oh, ich höre förmlich das Stöhnen der Leser. Tut mir leid, da müssen wir durch.)

Zwei Tage vor Ihrer Rede präsentierte Präsident Xi Jinping seine Perspektive für den bevorstehenden Staatsbesuch von Präsident Trump in China vor dem Beirat der angesehenen Schule der Tsinghua-Universität für Ökonomie und Management, dem auch hochrangige US-Amerikaner angehören. Die Entwicklung Chinas, das sowohl Vorteile der Globalisierung habe als auch zu deren Erfolg beitrage, sei eine große Chance für die Welt. Die Öffnung Chinas repräsentiere kein Nullsummenspiel, sondern die Chance einer Win-Win-Kooperation. Beim kommenden Staatsbesuchs Präsident Trumps sei China bereit, mit den USA zusammenzuarbeiten und weit in die Zukunft zu blicken und sich hohe Ziele zu stecken, die gegenseitigen Interessen und Besorgnisse zu berücksichtigen, und gemeinsam die Kooperation zwischen beiden Staaten zu einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit zu bringen. China werde eine Gemeinschaft für die eine Zukunft der Menschheit anstreben.

China ist seit geraumer Zeit, auf jeden Fall seit dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping 2012, dabei, Vorstellungen für die Zukunft der nächsten 50 Jahre zu entwickeln. Das war das Hauptthema auf dem 19. Kongreß der Kommunistischen Partei, der soeben stattgefunden hat. Xi entwickelte dort die Perspektive für die Gestaltung einer besseren und schönen Zukunft, nicht nur für China, sondern für die ganze Welt.

Xi hat aber auch immer betont, daß China nicht intendiere, sein politisches und soziales Modell in andere Staaten zu exportieren (wie der Westen dies ständig versucht), sondern nur bei deren wirtschaftlicher Entwicklung durch Investitionen in Infrastruktur, Industrie und Landwirtschaft hilft. Mit der Seidenstraßen-Initiative hat Xi in den letzten vier Jahren das größte Infrastrukturprogramm in der Geschichte in Gang gesetzt, mit dem bereits 70 Staaten kooperieren. Es ist zweifellos die wichtigste strategische Initiative, weil sie mit ihrer Konzeption einer Kooperation zum gegenseitigen Vorteil die Basis für die Überwindung der Geopolitik darstellt.

Es ist angesichts der negativen Berichterstattung der deutschen Medien über Trump (ARD98% negative Kommentare) für die Menschen hierzulande vielleicht überraschend, daß sowohl Präsident Trump, der vom besten Verhältnis zwischen Präsident Xi und ihm selber spricht, das überhaupt zwei Präsidenten haben, als auch sein Stabschef aus dem Weißen Haus, John Kelly, ein sehr viel toleranteres Verhältnis zu China haben. Kelly unterstrich in einem Interview mit Fox TV, es sei nicht die Aufgabe der USA, Beijing zu beurteilen. China habe offensichtlich ein Regierungssystem, das für das chinesische Volk funktioniert.

Die regierungsnahe chinesische Zeitung Global Times kommentierte dieses Interview mit den Worten, was Kelly dort gesagt habe, sei nicht etwas, was die westlichen Eliten von einem hochrangigen Mitglied der US- Administration hören wollten. Global Times schrieb weiter: „Seit langer Zeit sind die Amerikaner und einige westliche Bevölkerungen von der Ära des Kalten Krieges gehirngewaschen worden. Sie haben die Fähigkeit verloren, eine neue Realität zur Kenntnis zu nehmen und sie zu akzeptieren. In einer sich rasant entwickelnden Welt haben sich die chinesisch-amerikanischen Beziehungen anders entwickelt, als die vorherige Mentalität es vorgesehen hätte. Aber diese Leute können die neue Weltordnung nicht verstehen und beurteilen die Beziehungen zwischen diesen beiden Nationen immer noch mit dem alten Maßstab. Die alte Denkweise ist hartnäckig....“

In einer Rede vor dem tunesischen Parlament versprach der Präsident des Europa-Parlaments Antonio Tajani soeben, die EU plane, das Budget für Investitionen in Afrika von gegenwärtig 3,7 Milliarden Euro auf 40 Milliarden aufzustocken. Europa müsse einen wirklichen Marshallplan für Afrika beschließen, wenn man verhindern wolle, daß Millionen von Menschen nach Tunesien und darüber hinaus kämen. Bloße Worte könnten die Migranten nicht überzeugen, zu Hause zu bleiben, sie müßten die Chance für ein annehmbares Leben erhalten.

„Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“, kann man da nur mit Illo aus dem Wallenstein sagen; wenn die EU endlich zu einer vernünftigeren Afrika-Politik käme, könnte man das nur begrüßen. Wenn dies aber nur aus der alten Mentalität heraus geschähe, daß man der Seidenstraßen-Politik der Chinesen in Afrika einen „eigenen Weg“ entgegensetzen müsse, wie dies von einigen Europäern gesagt wurde, dann wird dieser Versuch fehlschlagen. Denn der „Geist der Neuen Seidenstraße“ ist ansteckend, das Insistieren auf bürokratischen Regeln, hinter denen sich geopolitische Absichten verbergen, ist es nicht.

Jetzt, nachdem in den USA einige der Machenschaften der Führung der Demokratischen Partei und der Wahlkampagne Hillary Clintons ans Tageslicht kommen - Manipulation von oben statt Demokratie, und Kollusion mit den britischen und eigenen Geheimdiensten gegen den politischen Gegner, nämlich Trump -, ist es an der Zeit, nicht nur zu überdenken, was im westlichen System nicht harmonisch aussieht, sondern auch, warum das chinesische System zu Wachstum und Stabilität geführt hat.

Die ideologische Herausforderung in Bezug auf China, von der Sie sprechen, liegt darin, anzuerkennen, daß die Betonung des Gemeinwohls vielleicht einen ebenso hohen Wert darstellt, wie die individuelle Freiheit. Und sie muß auch gar keinen Widerspruch darstellen, wenn man wie Friedrich Schiller denkt, daß die Freiheit in der Notwendigkeit liegt.

Wenn Sie, als Bundespräsident, ein Signal für die nächsten 50 Jahre geben wollen, dann sollten Sie das Kooperationsangebot Chinas für die Neue Seidenstraße aufgreifen und begrüßen!

Mit freundlichen Grüßen
Helga Zepp-LaRouche