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Die amerikanischen Wurzeln der industriellen Revolution in Deutschland

- 2. und letzter Teil

[i]Von Helga Zepp-LaRouche[/i]

Jetzt komme ich zur eigentlichen Sache. Bisher war alles nur Vorrede.

Bismarcks Reformen waren eindeutig durch die protektionistische Politik in Amerika angeregt. Die Schlüsselfigur in Deutschland hierbei war Wilhelm von Kardorff, Mitglied des deutschen Reichstags, der enge Beziehungen zu Gerson von Bleichröder, dem Wirtschaftsberater und Privatbankier Bismarcks, pflegte. Kardorff war Aufsichtsratsvorsitzender der Vereinigten Königs- und Laurahütte AG, war an der Gründung der Posen-Kreuzburger Eisenbahn beteiligt und schuf  zusammen mit von Bleichröder die preußische Hypothekenbank.

Das alles entwickelte sich folgendermaßen: Im ersten Jahrzehnt seiner Amtszeit war Bismarck auf die Unterstützung der national-liberalen Partei angewiesen, die rückhaltlos für den Freihandel war. Er hatte nach der Einheit Deutschlands 1871 die französischen Reparationszahlungen in die industrielle Entwicklung investiert und ein Reichseisenbahnbüro eingerichtet, weil er die Eisenbahn so schnell wie möglich nationalisieren wollte - was er dann auch getan hat.

Aufgrund der Freihandelspolitik kam es 1873 zum sogenannten Gründerkrach, woraufhin Kardorff und seine Kreise den Wechsel zum Protektionismus durchsetzten.

Damals starb auch der sehr negative, ultrakonservative Papst Pius IX., gegen den Bismarcks Kulturkampf gerichtet war. Diese Ultramontankreise hatten die Zentrumspartei gegen Bismarck aufgehetzt, die ihm ihre Treue und Gefolgschaft verweigerte. In dem Augenblick, in dem Leo XIII. Papst wurde, hörte der Zwist auf, sodaß sich für Bismarck die Möglichkeit einer neuen Koalition ergab. Außerdem unterstützten Industrievertreter aus dem Rheinland und Bayern die Politik des Protektionismus.

Um noch einmal die Umstände zu verdeutlichen: Billige Getreideimporte aus Rußland waren beispielsweise ein großes Problem für die Junker östlich der Elbe. In dieser Situation ließ Bismarck von Kardorff  freie Hand, um eine protektionistische Politik umzusetzen. 1876 gründete Kardorff den Zentralverband der Deutschen Industrie - also das, was heute der DIHT oder der BDI wäre - und wurde sein erster Präsident. Nach intensiven Verhandlungen mit ihm beschloß Bismarck den Kurswechsel zum Protektionismus. 1875 hatte Bismarck bereits einen Goldstandard für die Währung des gesamten Reiches erklärt und die Reichsbank als zentrale Institution für die Finanzen und das Drucken von Geldnoten etabliert. Im ganzen Land breitete sich immer mehr eine Stimmung für Protektionismus aus.

Im Mai 1879 präsentierte Bismarck sein neues ökonomisches Programm und erklärte vor dem Reichstag: „Wir waren bisher wegen unserer Politik der offenen Tür der Endlagerungsplatz für die Überproduktion anderer Länder. Das hat nach meiner Ansicht die Preise in Deutschland kaputt gemacht. Es hat das Wachstum unserer Industrien verhindert und die Entwicklung unseres Wirtschaftslebens. Wir müssen diese Tür schließen, müssen eine höhere Barriere errichten. Und was ich jetzt vorschlage, ist, daß wir für die deutsche Industrie denselben Markt schaffen, den wir bisher aus Gutmütigkeit Fremden erlaubt haben auszubeuten. Wenn die Gefahren des Protektionismus so groß sind, wie sie von den Anhängern des Freihandels dargestellt werden, dann wäre Frankreich schon längst verarmt, weil sie dieser Theorie seit den Zeiten von Colbert anhängen. Über die abstrakte Lehre der Wissenschaft in dieser Hinsicht kümmere ich mich nicht im Geringsten. Ich stütze meine Meinung auf Erfahrung in der Gegenwart."

Mit der neuen Koalition im Reichstag konnte Bismarck dieses Programm am 12. Juli 1879 einführen. Außerdem schuf er ein preußisches Ministerium für öffentliche Aufgaben, dessen Auftrag es war, das preußische Eisenbahnsystem auszubauen und zu nationalisieren. Zwischen 1883 und 1889 erließ Bismarck seine Sozialgesetzgebung, die bahnbrechend in der ganzen Welt war; sie übertraf sogar die USA, was soziale Absicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversicherung anging.

Die industriefreundliche Politik und die Sozialmaßnahmen Bismarcks waren die Hauptgründe, warum aus Deutschland eine der führenden Industrienationen wurde. Deutschland hatte keine Rohstoffe, war rückständig, die Junker und Oligarchen hatten weitgehend das Sagen. Doch innerhalb kürzester Zeit verwandelte diese Bismarcksche Politik Deutschland in eine Industrienation.

Das muß man wirklich verstehen, denn heute sollen genau diese Dinge wieder abgebaut werden: Krankenversicherung, das Gesundheitssystem, Renten, all die damaligen Errungenschaften sollen jetzt geopfert werden.

Kardorff: Der Rechenfehler des Freihandels

Ich habe mir Wilhelm von Kardorffs Hauptwerk etwas näher angeschaut und bitte jetzt um etwas Geduld, denn ich will aus diesem Werk einiges zitieren. Immerhin wurde es von jemandem verfaßt, der heute der Industriechef Deutschlands wäre.

Kardorffs Buch heißt [i]Gegen den Strom[/i] und erschien 1875 in Berlin. Kardorff schreibt darin, wenn man sich die britischen Freihandelstheorien anschaue, zum Beispiel das Buch eines gewissen Herrn Buckle über die angebliche Geschichte der Zivilisation in England, so höre man das typisch englische Argument: „Nur durch die Ansammlung von Reichtum sei die Bildung einer intelligenten Klasse innerhalb einer Nation möglich. Denn - so gehe die Logik - weil die reiche Klasse, wenn sie dann Geld hat, selbst nicht für ihre Lebensbedürfnisse zu produzieren braucht, sondern nur das verbraucht, was andere produzieren und dadurch die Muße erhält, die Kenntnisse zu erwerben, ob derer stetigen Fortentwicklung aller Fortschritt der menschlichen Gesellschaft überhaupt beruht. Also: Ohne Reichtum gebe es keine Muße, ohne Muße keine Wissenschaft."

Kardorff erklärt, daß das ja irgendwie nicht stimmen könne, denn so viele wissenschaftliche Leistungen seien von Menschen gekommen, die ihren Lebensunterhalt durch tägliche Arbeit verdienen müssen. Und er fährt fort: „Da ist mir die Argumentation Careys doch sehr viel einleuchtender." Unter Bezug auf Carey sagt er, daß „nur mit den besseren Werkzeugen, also nur mittels des angesammelten Kapitals eine erhöhte Macht des Menschen über die unendgeldlichen Dienste der Natur ermöglicht wird." Also durch technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt erhöhe sich die Macht des Menschen über die Natur. Er sagt: „Hält man diesen Gedanken fest und vergegenwärtigt man sich, daß zur Erreichung dieses Zieles die angespannteste, ausdauerndste Kraft der Nation notwendig ist, daß diese wiederum die stetige Kräftigung und Veredelung des sittlichen Charakters derselben zur Voraussetzung hat, so wird man das Streben nach nationalem Reichtum schwerlich als eine Gefahr für einen modernen Staat ansehen können."

Und weiter: „Der Reichtum der antiken Welt, der das Verderben der Staaten wurde, war nur ein scheinbarer, trügerischer und vorübergehender, weil er jederzeit die Massenausdehnung der Sklaverei und damit Arbeitsscheu und Demoralisierung der herrschenden Völker mit sich brachte."

Die Debatte drehte sich also darum, ob es wirtschaftlich nützlich sei, Sklaven zu haben. Das lehnte von Kardorff vollkommen ab. Er sagt: „Umgekehrt ist in modernen, zivilisierten Staaten die Zunahme des Wohlstandes regelmäßig eine Folge der Zunahme des Fleißes und der Freiheit."

Wenn jemand etwas von dem, was ich sage, behalten will: Fleiß!

Kardorff fährt fort: „Aber nationaler Reichtum ist auch heute eine Voraussetzung nationaler Macht. Mögen Nationen, die sich nicht berufen fühlen, einen bestimmten Einfluß auf die Geschicke der zivilisierten Welt auszuüben, welche durch ihre geographische Lage vor Einmischungen mächtiger Nachbarvölker geschützt sind, auf den Erwerb nationalen Reichtums verzichten. Für eine Nation wie die Deutschen, die in der Mitte von Europa liegen, die viele Nachbarn haben, ist ein Zurückbleiben im nationalen Wohlstand gleichbedeutend mit der Aufgabe der jetzigen Machtstellung, welche sie mit gewaltigen Anstrengungen in heißestem, blutigem Kampfe errangen. Gleichbedeutend mit der Wiederherstellung des unheilvollen Einflusses, den das Ausland Jahrhunderte lang auf die Entwicklung unseres Vaterlandes geltend zu machen wußte."

Dann schreibt Kardorff: „Früher war ich auch ganz naiv, als ich noch in die Universität ging und dort Adam Smith, Ricardo, Stuart Mill studierte, und bei Fragen im Examen dachte ich, ich wüßte, welche Finanz- und Handelspolitik ein Staat treiben müßte, um seinen Angehörigen in hervorragendem Maße zu jener Herrschaft über die unendgeldlichen Kräfte der Natur, auf welcher der nationale Reichtum beruht, zu befähigen. Zu jener Zeit war ich ein Manchester-Mann von reinstem Wasser. Ich hatte die Überzeugung, daß England seinen überlegenen Reichtum lediglich dem Freihandel verdankt. Das war felsenfest meine Meinung. Damit die einfache Regel: So billig kaufen wie möglich, egal woher und von wem, und so teuer wie möglich verkaufen, egal wohin und an wen. Das schien mir ein unfehlbares Mittel, durch einen friedlichen Wettkampf der Völker die Produktion der Güter anzuspornen, auf deren Hervorbringung das einzelne Land durch seine geographische Lage, sein Klima, seine Grund- und Bodenverhältnisse besonders geeignet ist. Ich sah in jeder Abschaffung von Zöllen einen Kulturfortschritt im allgemeinen und eine sichere Quelle der Bereicherung. Zölle erschienen mir als schädliche Schranken und als ungerechte Bevorzugung einzelner Industriezweige, als überflüssige Bevormundung der freien Entwicklung der nationalen Kräfte.

Entsetzen, als ich einen gebildeten Amerikaner kennen lernte in der Sauna, im Bade, der mir erzählte, die Manchester-Freihandelstheorien wären der größte Schwindel, der jemals erfunden worden sei, um die Menschheit zu betrügen. Wir sprachen über den amerikanischen Bürgerkrieg. Ich hatte natürlich keine Sympathie für die Sklaverei, aber ich dachte doch, wenn die Nordstaaten gewinnen, dann würde der Protektionismus den Sieg über die Freihandelspolitik gewinnen, und das wäre schlecht. Daraufhin sagte jener Amerikaner, er wolle es Deutschland nicht wünschen, daß es jemals die Erfahrung mache, was die praktische Durchführung des radikalen Freihandels bedeuten würde. Dann fragte er, ob ich Careys Schriften gelesen hätte. Carey? Kurze Zeit später traf ich den Herrn Ziegler von der deutschen Fortschrittspartei, der mir dieselbe Frage stellte: ,Kennen Sie Carey?'

Dann machte ein Freund folgendes Argument: Wenn die Freihandelstheorie richtig wäre, müßten alle protektionistischen Länder verarmen und alle Freihandelsländer reich werden. Eine genaue Prüfung der Verhältnisse aller Länder auf der ganzen Welt beweist, daß gerade das Gegenteil der Fall ist. Die Freihandelsländer verarmen, alle protektionistischen Länder blühen auf, also muß in dem Beispiel der Freihandelstheorie ein Rechenfehler sein."

Dann geht er auf diesen Rechenfehler ein und sagt:

„Das ganze System der Manchester-Schule beruht auf der Fiktion, daß alle Völker der Erde eine gemeinsame Familie sind und ein gemeinsames Interesse bilden. Also auf einer ganz ähnlichen Fiktion wie die Theorie eines allgemeinen, ewigen Völkerfriedens. Und es ist durchaus bezeichnend, daß die Apostel der Manchester-Schule zugleich Anhänger der Internationalen Liga sind, oder auch von Kants Ewigen Frieden, der auf derselben Idee basiert.

Wer würde ernsthaft daran denken, ein Heer abzuschaffen, auf die Wehrkraft des Landes zu verzichten in der Hoffnung, daß eine solche Politik die anderen Staaten zur Nachahmung veranlassen? Praktische Vorschläge, unsere kriegerische Ausbildung aufzugeben, um Rußland, Frankreich, Österreich zu gleichen Maßnahmen zu veranlassen, würden selbst die größten Idealisten und Schwärmer unter unseren Staatsmännern nur belächeln. Lächerliche Doktrin, daß die Verwirklichung des radikalen Freihandels in Deutschland auch Österreich, Rußland und Frankreich auf dieselben handelspolitischen Bahnen treiben würde. Selbst Adam Smith sagte, daß nicht der äußere Handel, sondern der innere Verkehr die Hauptquelle des Reichtums eines Landes ist."

Dann beschreibt Kardorff, daß in der Tat der Anstieg der Produktivität die Quelle des Reichtums darstellt: „Daß die innige Assoziation der Menschen, welche die Vorbedingung für die Vervollkommnung ihrer Herrschaft über die Natur ist, und welche allein das Blühen jenes inneren Werkes - Verkehr - verbürgt, nur erreicht werden kann durch die Entstehung zahlreicher kleiner Zentren, dagegen getötet wird durch jede willkürliche Verschiebung des natürlichen Marktes und die Zentralisierung des Verkehrs nach einzelnen, großen Handelsplätzen. Die kolossale Kraft- und Energieverschwendung und Kosten der Ortsveränderung, der Transportkosten, wie sie das radikale Freihandelsprinzip hervorruft, müssen von irgend jemand getragen werden."

Siehe heute. Für den Umstand, daß durch den Freihandel Nahrungsmittel aus der Dritten Welt zu Lidl und Aldi verschifft werden, muß irgend jemand die Kosten bezahlen.

„Verkennung der Bedeutung des Übergewichts der Textil- und Eisenindustrie, die England auf künstliche und unnatürliche Weise durch die rücksichtslose Ausbeutung seiner Kolonien erworben hat. Nachteile für alle Länder, die den Freihandel akzeptieren, die daraus entstehen, daß England selbst durchaus eine protektionistische Politik für [i]seine[/i] Produkte betreibt, die andere Länder billiger und besser produzieren. Unrichtige Interpretation und Anwendung des fundamentalen Satzes: Kaufe billig und verkaufe teuer! Denn der scheinbar billige Kauf ist unter Umständen viel teurer. Die Unterschätzung des Einflusses, den die mögliche Vielseitigkeit der Produktion einer Nation auf die intellektuelle Ausbildung hat. Wenn ausschließlich Ackerbau und Erzeugung von Rohprodukten innerhalb einer Nation existiert, bringt das Nachteile für diese Nation gegenüber Nationen, bei denen gleichzeitig eine vielfältige Industrie blüht."

Dieses Argument führt LaRouche immer gegen den Tourismus oder gegen Monokulturen an. Vielmehr ist es die große Arbeitsteilung, welche die intellektuellen Fähigkeiten der Bevölkerung verbessert und die Produktivität erhöht.

„Wenige Jahre eines energischen Schutzzolls haben ausgereicht, um die amerikanischen landwirtschaftlichen Maschinen und Eisenbahnen über die ganze Welt zu verbreiten. Das gleiche für Frankreich. Wenige Jahre eines Schutzzolls haben gereicht, um in Frankreich die Exportfähigkeit und Produktion des Landes zu der Höhe zu entwickeln, um die wir es gegenwärtig mit Recht beneiden."

Dann schreibt Kardorff ironisch: „Das sind alles Beweise, daß die Manchester-Theorie vollkommen falsch ist."

„Ein anderes Argument, das von den Freihändlern gebracht wird, ist die Frage der billigen Arbeitslöhne." - Heute auch wieder sehr aktuell - „In Baden-Württemberg, Sachsen, Westfalen und am Rhein sahen wir hohe Arbeitslöhne und das Bild eines verbreiteten Wohlstandes, blühendes Gewerbe, reiche Erträge der Landwirtschaft, während die Industrien der östlichen Provinzen Preußens mit niedrigen Löhnen dasselbe Bild der Armut und des Verfalls darbieten wie die Länder, welche wie Irland, Indien und Mexiko die niedrigsten Arbeitslöhne der Welt aufweisen."

Das ist heute noch genauso. „Deshalb das allgemeine Geschrei der Manchester-Schule: Löhne senken, vergessen, daß der Arbeiter nicht nur der größte Produzent, sondern auch der größte Konsument des Landes ist, daß die Herabsetzung seines Lohnes damit zugleich die Verminderung seines Konsums ist."

Außerdem würden die Vertreter der Manchester-Schule das „Recht des Arbeiters auf Streik" vertreten. Dazu sagt Kardorff: „Das heißt nichts weiter, als auch jenen Klassenkampf bei uns einzubürgern, bei dem die Arbeiter gewissenlosen Agitatoren in die Hände getrieben werden, um dann regelmäßig, wie die Vorgänge in England deutlich zeigen, zum willenlosen Sklaven des Kapitals zu werden." Dem setzt er gegenüber: „Je ruhiger und friedlicher die innere Entwicklung eines Landes sich gestaltet, um so größer ist die Gewißheit, daß der Arbeiter an den Wohltaten der Zivilisation in steigender Progressivität teilzunehmen vermag und daß die Normierung seiner Lohnsätze sich mit den gesteigerten Bedürfnissen des Lebens im Einklang hält."

Er fährt fort: „Der Schlachtruf der Sozialdemokraten: Möglichste hohe Arbeitslöhne, möglichst wenig Arbeit! Der Schlachtruf der Manchester-Schule: Möglichst niedrige Arbeitslöhne, möglichst viel Arbeit! Aber die Lösung ist: Möglichst hohe Arbeitslöhne und möglichst viel Arbeit, ist der einzige Weg, den nationalen Wohlstand zu sichern, und die Politik, die diese Möglichkeit sichert, ist die einzig richtige."

Und weiter: „Das Argument der Manchester-Schule ist, daß nur die Industrie eine nachhaltige Exportfähigkeit erlangt, welche einen sicheren Markt im Inland besitzt." Er sagt, man solle sich England anschauen, dann sehe man, wo das hinführt. „Täglich sehen wir in England die Kluft zwischen großen Kapitalbesitzen und den Besitzlosen sich vergrößern. Wir sehen das vollständige Verschwinden des Mittelstandes im Grundbesitz, wir sehen, wie viele hundert Morgen fruchtbaren Landes jährlich zu Jagdgründen und Parks umgewandelt werden" - Also alles wie heute. - „Deshalb leisten wir England einen Dienst, wenn wir uns davor bewahren, das Opfer dieser Handelspolitik zu werden, an welcher England selbst so schwer erkrankt ist, und statt dessen eine richtige Handelpolitik machen für unsere eigenen Bedürfnisse, soweit wir können selbst zu sorgen. Die trefflichen Schriften Careys, dessen Studium ich nicht genug empfehlen kann, behandeln die Fragen, welche nach meiner Meinung Lebensfragen für das Deutsche Reich sind."

Historische Beispiele

Kardorff studierte auch die Wirkungen des Freihandels und des protektionistischen Systems am Beispiel verschiedener Länder wie der Türkei, Portugal, Irland. „Diese [Länder] haben sich enorm verschlechtert durch den Freihandel. Irland beispielsweise hat die billigsten Arbeitslöhne, großes Elend der niederen Klassen, allgemeine Armut, Erschöpfung von Grund und Boden."

Den Unterschied hierzu könne man am besten in Amerika sehen, „weil dort die verschiedenen Systeme, das protektionistische und das Freihandelssystem abwechselnd die Herrschaft gehabt haben und die zahlreichen Fabriken und Manufakturen, welche 1812 bei Eröffnung des Krieges gegen England entstanden waren, mit dem Frieden und dem Wiederbeginn des englischen Imports untergingen. Die Folgen waren sinkende Arbeitslöhne und Entwertung von Grund und Boden, bis 1824 ein halbes und 1828 ein völliges protektionistisches Zollsystem eingeführt wurde. Sofort entwickelte sich der innere Verkehr zu hoher Blüte, die Arbeitslöhne stiegen, der Wert von Grund und Boden stieg, die Geldkalamität hörte auf. Dann gewannen wieder die Freihändler der Südstaaten die Oberhand und setzten 1833 einen Kompromiß durch. Die Schutzzölle wurden abgeschafft, 1842 waren sie ganz verschwunden, und sofort traten die alten Notstände ein: Handelsdefizite, Verfall der Löhne, Geldmangel, Entwertung von Grund und Boden. Und zwar so vehement, daß ein Umschwung der Politik und eine Rückkehr zum Schutzzollsystem erfolgte, das dann 1846 wieder verlassen wurde. Nach der Beendigung des Sezessionskrieges hat nun, wie es scheint, dauernd das protektionistische System die Oberhand gewonnen. Und wenn Carey von früheren Perioden sagt, es sei jedes Mal mit dem Freihandel zu denselben trostlosen Folgen gekommen, während sofort bei der Rückkehr zum protektionistischen System das Land sich wie mit einem Zauberschlage erholte, so würde er heute mit Stolz darauf verweisen können, daß die Vereinigten Staaten nach mehrjähriger Dauer des jetzigen protektionistischen Systems nicht nur Rohprodukte, sondern auch Fabrikate in gewaltigen Massen exportieren."

Noch ein Beleg für den Wert der von der Manchester-Schule gepredigten These, daß der Schutzzoll die Exportfähigkeit eines Landes vernichte: „Wegen dieser protektionistischen Politik konnten die Vereinigten Staaten 1. die ungeheure Kriegsschuld tilgen, 2. die Arbeitslöhne, den Wert von Grund und Boden steigern, 3. die Produktion des Landes in unglaublich schnellen Progressionen anwachsen lassen, und 4. waren Kredit- und Bargeld in ausreichendem Maße vorhanden."

Dann beschreibt Kardorff ein anderes Land, wo genauso vorgegangen wurde, nämlich Frankreich: „Das glänzendste Beispiel für die Richtigkeit der Carey-Lehren bietet jedoch die neue wirtschaftliche Entwicklung in Frankreich. Einer der größten Staatsmänner, die jemals berufen waren, das wirtschaftliche Leben einer Nation zu leiten, der Minister Colbert, hat in seinem bekannten Bericht an Ludwig XIV. die Grundsätze seiner Handelspolitik dahingehend präzisiert, daß er die Ausfuhrzölle auf alle einheimischen Produkte herabsetzen, die Einfuhrzölle für Rohprodukte vermindern, fremde Manufakturen aber vermittels einer Erhöhung der Zölle möglichst ausschließen wollte."

Deshalb sei das damalige Frankreich in der besten Situation. Dem stellt er Deutschland gegenüber und meint, solange auch die Nachbarn Deutschlands alle den Freihandel hatten, sei das noch gegangen. Aber seitdem Nordamerika, Rußland und Frankreich durch protektionistische Maßnahmen verschlossen seien, sei das anders. Jetzt wäre „Freihandel eine schleichende Krankheit, die langsam das Mark des Volkes verzehrt."

In dem Zusammenhang preist Kardorff die Weisheit und Energie des Fürsten Bismarck und fordert, jetzt eine ernsthafte Prüfung dieser beiden Systeme vorzunehmen und zu den richtigen Schlüssen zu kommen.

Es sei hier nachdrücklich betont: Die Tatsache, daß sich Wilhelm von Kardorff, der Hauptbegründer dieser Periode, so explizit auf Carey bezieht, wurde in den modernen Geschichtsbüchern vollkommen weggebügelt.

Der irische Widerstand

Zum Abschluß habe ich noch ein Bonbon, denn ich möchte jetzt noch über Irland spreche. Ihr wißt ja, daß Irland gerade durch das „Nein" beim EU-Referendum etwas für die Verteidigung der Demokratie in Europa getan hat. Es ist kein Zufall, daß das gerade in Irland passiert ist. Ich möchte einen ganz kurzen Überblick über die irische Geschichte geben.

Ein wichtiger Begründer des irischen Widerstandes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein gewisser Daniel O'Connell (1775-1847), der auch der Wortführer des irischen Nationalbewußtseins gegen das britische Empire war. O'Connell wurde 1798 Anwalt in Dublin, wurde 1828 ins britische Parlament gewählt, weil Irland damals noch eine Union mit Großbritannien war. Er war ein Führsprecher für den sog. „repeal", also den Widerruf der Union zwischen England und Irland. Als 1835 die Torys gestürzt wurden und statt dessen ein Whig-Kabinett unter Ministerpräsident William Melbourne an die Macht kam, wurden ein Gesetz für die Armen erlassen und die Zinsen gesenkt. Aber das war viel zu wenig, und sehr bald richtete sich die Bevölkerung auch gegen diese Regierung. Sie wurde erneut gestürzt, und dann wurde O'Connell der erste katholische Oberbürgermeister von Dublin. Dann kam es im Oktober 1843 zu einer Massenversammlung, gegen welche die englische Regierung mit Waffengewalt vorging. O'Connell wurde zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt, die wegen eines Formfehlers aber nicht vollstreckt wurde.

In der gleichen Zeit war auch List in Deutschland aktiv, der immer mehr mit dem großen Agitator Irlands verglichen und sogar als „O'Connell der deutschen Fabrikanten" bezeichnet wurde.

Am 6.12.1921 kam es dann zum irischen Unabhängigkeitsvertrag, wodurch Irland errang, wofür es seit tausend Jahren gekämpft hatte. Vorher hatte es unter totaler wirtschaftlicher und politischer Unterjochung gelitten, weil es eigentlich eine englische Kolonie war. Zum Beispiel gehörten sechs Siebentel des Grundbesitzes englischen Grundherrn, die immer steigende Pachtzinsen verlangten. Es entwickelte sich die sog. „Zwergwirtschaft", weil jedes noch so kleine landwirtschaftliche Stück Land immer weiter geteilt und unter immer mehr Leuten aufgeteilt wurde.

Das Elend der niederen Volksklassen wurde von Friedrich List in einem Aufsatz über das Eisenbahnwesen in Irland 1839 behandelt. Dort schreibt er: „Das Elend dieser Bevölkerung übersteigt alle Vorstellungen. Jeder Einwohner ist Eigentümer, jeder Eigentümer ein Bettler. Brot ist bei ihnen eine Rarität, Milch ein Luxusgetränk, Fleisch unbekannt. Sie leben nur von Kartoffeln, und zwar nur von der elendsten Sorte, die man vor Zeiten als Schweinefutter verachtete und die man jetzt den besseren Sorten vorzieht, weil sie mehr ausgibt und den Magen besser füllt. Die Erwachsenen gehen in Lumpen, die Kinder sind nackt. Ihre Hütten sind von Kot erbaut, ohne Fenster und Türen, ohne Rauchfang, fast ohne Dach und jedenfalls ohne ordentlichen Fußboden. Halbverfaultes Stroh und Laub ist ihr Lager. Außer einigen Töpfen ist an Gerätschaften nichts zu sehen. Menschen und Schweine leben untereinander. Die letzteren sind sorgfältiger gepflegt als die Kinder, weil sie die Mittel zur Bezahlung der Rente gewähren. Von den Arbeitern geht die Hälfte aus Mangel an Arbeit die ganze Zeit müßig. Dies ist die Ursache aller Unruhen und Verbrechen, die in einem so furchtbaren Grad gestiegen sind. Dabei ist es noch zu verwundern, mit welcher Seelenstärke die Mehrzahl dieser Geschöpfe ihr Elend erträgt. Im grellen Gegensatz dazu steht die Prosperität der großen Grundbesitzer und Pächter, der Fabrikanten und so fort, welche in Folge der Vereinigung mit England, der Dampfschiffahrt und der Verbesserung der neuen Zeit überhaupt stetig gestiegen sind."

O'Connell beschrieb in seiner Verteidigungsrede während des Prozesses den Niedergang der Wirtschaft, und diese Rede wiederum hat Friedrich List in einem Kommentar im Zollvereinsblatt ausgelegt. List schreibt über die Rede O'Connells:

„Die Städte am Bettelstab, die Vorstädte in Steinhaufen verwandelt, alle Manufakturen ruiniert, die Arbeiter aufs flache Land hinausgetrieben, wo sie sich mit Kartoffeln ohne Salz das Leben fristen. So sieht dasjenige Glück aus, das unsere Handelsfreiheitsphantasten auch uns Deutschen bereiten wollen.

Läge ein Funken von Wahrheit in dieser Theorie, das Glück des freien Verkehrs mit England müßte um so größer sein, je näher man an der reichen Insel gelegen ist. Aber das schnurgerade Gegenteil zeigt die Erfahrung Irlands. Durch die Dampfschiffahrt ist die Irische See in einen Strom verwandelt. Man fährt für einen Schilling hin und her. Der freie Verkehr zwischen beiden Inseln hat aber um so mehr Elend und Verbrechen verbreitet, und die Erfahrung Irlands stellt nur um so krasser den Erfahrungssatz ans Licht, daß kein Land ohne blühende Manufakturen beim bloßen Ackerbau prosperieren kann. Wie wir früher gesagt haben: Die Liebe zu der reichen und mächtigen Britannia ist wie die Liebe Semeles zum allmächtigen Jupiter. Nach der griechischen Mythologie ist Semele die Tochter des Kadmos, die sich in den Zeus verliebt. Auf Anstiftung der eifersüchtigen Hera äußerte Semele den Wunsch, Zeus in seiner vollen Majestät zu sehen, und wurde bei dessen Anblick von der Glut seiner Blitze getroffen. Also, wer sich von ihr umarmen läßt, wird vom Feuer verzehrt.

Freilich liegt auch in der irischen Ackerverfassung mit ein Hauptgrund des irischen Elends. Allein auf die Ausführung dieses Grundes leistet die englische Handelssophistik Verzicht, denn sie beweist, daß die Verzehrung der irischen Landrente im Ausland der Prosperität Irlands nicht den geringsten Nachteil bringe. Nie ist ein offenbarer Sophismus mit größerer Insolenz einer wortgläubigen Zunft von Wissenschaftlern als praktische Weisheit aufgebunden worden. Und wer noch Zweifel hat, daß die englische Theorie des freien Handels lediglich dem Bedürfnisse Englands zugeschnitten sei, der muß bei dem einen Argument ins Klare kommen, das in die Sprache der Wahrheit übersetzt nichts anderes heißt als: die Verzehrung der irischen Landrente in England ist Altengland vorteilhaft. Ergo: Es ist durch die Grundsätze der Nationalökonomie und Staatsweisheit gerechtfertigt."

Das ist alles sehr eindeutig.

Der nächste große Listianer in Irland war Arthur Griffith. Dieser wurde am 31. März 1871 in Dublin geboren und gründete 1905 eine politische Partei, die Sinn Féin, was auf deutsch „Wir selbst" heißt. Griffith wollte zunächst keine völlige Autonomie, und er lehnte Gewalt entschieden ab. Trotzdem kam es 1916 zu einem Aufstand, und die Republik Irland wurde ausgerufen, worauf die englische Regierung sehr scharf reagierte. 90 Iren wurden nach dem Kriegsrecht verurteilt und 15 exekutiert. Diese Exekutionen bewirkten einen völligen Sinneswandel in der Bevölkerung, die ab sofort die Unabhängigkeit verlangte.

Von Januar 1922 bis August 1922 wurde Griffith der erste Ministerpräsident des Freistaates Irland. Er berief sich direkt auf Friedrich List und sein Nationales System. In einer Rede vor dem ersten Konvent des Nationalrates am 28. November 1905 bekannte er zum ersten Mal öffentlich, ein Anhänger von Friedrich List zu sein. Auch veröffentlichte er eine Artikelserie über dessen Ideen, darunter einen sehr wichtigen Artikel über List und Carey.

Darin heißt es: „Bis zum Jahre 1824, als die Handelklasse und die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung Englands in feindliche Lager gespalten waren, hat England den schärfsten Protektionismus der ganzen Welt praktiziert, während die vom Kontinent eingeführten Waren mit strengen Prohibitivzöllen belegt wurden, und auf Nahrungsmittel galt ein striktes Einfuhrverbot. Bis zum Ende der napoleonischen Kriege verlangten die englischen Gesetze, daß ausländische Waren nur auf britischen Schiffen, oder nur auf Schiffen derjenigen Länder transportiert werden durften, aus denen die Waren stammten, in denen sie hergestellt wurden. Und der Handel mit den englischen Kolonien war ausschließlich englischen Schiffen vorbehalten. Exportgüter aus England konnten nur mit britischen Schiffen ausgeführt werden...

Die Lehrmeinungen von Adam Smith sind von England auf dem europäischen Kontinent kräftig gefördert worden, während es selbst seine Häfen dicht machte. Der englische Geheimdienst hat - keineswegs knauserig - Gelder an Journalisten und Theoretiker verteilt, um sie dahingehend zu beeinflussen, daß sie sich zum Fürsprecher für die Öffnung der kontinentalen Häfen für englische Waren machten. Während die französische Politik sich dem widersetzte, wurden Professoren und progressive Journalisten zugunsten der englischen Wirtschaft massiv bearbeitet." Wenn man manche Medien heute so anschaut, scheint sich an dieser Praxis des englischen Geheimdienstes nicht viel geändert zu haben.

Griffith schreibt weiter, Friedrich List in Deutschland sei von einem gewissen Dr. Bowering verleumdet wurde, der von der britischen Regierung dafür bezahlt worden sei, ihn in Mißkredit zu bringen. Aufgrund dieser von der britischen Regierung finanzierten Verleumdungen sei List in Deutschland schwer verkannt worden. - Das kommt einem auch irgendwie bekannt vor.

Griffith schließt, das moderne Deutschland und das moderne Amerika seien Englands politische Rivalen geworden, und das sei dem Werk von Friedrich List und Carey zu verdanken. Bismarck habe schließlich das Wunderwerk vollbracht, Deutschland mit Hilfe dieser Theorien in 20 Jahren aus dem Nichts zur Großmacht verwandelt zu haben.

Es ist schon bezeichnend, daß diese absolut korrekte Beurteilung über die Wurzeln der deutschen industriellen Revolution in Deutschland, die Griffith hier identifiziert, und die enge Anlehnung der Bismarckschen Reformen am amerikanischen System der Ökonomie in den zahlreichen Biographien über Bismarck so gut wie keine Erwähnung finden. Gerade jetzt aber wäre eine solche Erinnerung extrem wichtig. Denn die Systemkrise, die vor einem Jahr durch die amerikanische Hypothekenkrise ausgelöst, aber nicht verursacht wurde, steuert ihrer Endphase entgegen, und die der Globalisierung zugrunde liegende Freihandelstheorie  ist diskreditiert. Sowohl die Verlagerung von Produktion und Arbeitsplätzen in Billigproduktionsländer als auch die Schwächung des deutschen Binnenmarktes als Folge der Europäischen Währungsunion bestätigen die Richtigkeit der Argumente Kardorffs und der Politik Bismarcks für heute. Wenn Deutschland als Industrienation die kommenden Stürme überstehen will, dann sollten wir dafür sorgen, daß wir aus dieser Geschichte lernen. Und da die Managerklasse der „shareholder values society" gegenwärtig ohnehin in Verruf geraten ist, finden wir  heute vielleicht hier und da doch patriotische Industrievertreter, die das Erbe Kardoffs antreten und von Bismarck lernen wollen.