von Stephan Ossenkopp, stellvertretender Vorsitzender der Bürgerrechtsbewegung Solidarität
Während sich die große Mehrheit der Staaten der Welt für eine neue Ära gleichberechtigter Interessen, universeller Sicherheit und gerechter Entwicklung einsetzt, scheinen in Deutschland die Uhren still zu stehen. Die Politik in Berlin will nicht wahrhaben, was nicht wahr sein darf, nämlich daß es für Kiew keine NATO-Mitgliedschaft geben wird und daß die militärische Rückeroberung der Krim und der russisch besetzten Gebiete im Osten der Ukraine unmöglich ist. Gleichzeitig wird die Fata Morgana eines bevorstehenden russischen Angriffs auf Kerneuropa wiederholt. Die deutsche Gesellschaft soll von oben bis unten auf Krieg eingestimmt werden. Die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus wird diskutiert, die Risiken, Deutschland dadurch zum Ziel von Vergeltungsschlägen zu machen, werden verdrängt. Der „Operationsplan Deutschland“ wird am Ende vielleicht sogar Billionen Euro auf Nimmerwiedersehen verschlingen.
Dort, wo das Geld wirklich gut angelegt wäre, nämlich für die Sanierung der maroden kommunalen und staatlichen Infrastruktur, für bezahlbare Preise von Energie und Wohnraum, für die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der Industrie und für eine solide und zukunftsfähige Ausbildung unserer Kinder, herrscht zunehmend Ebbe. Wenn dieser Kurs nicht umgekehrt wird, wird Deutschland böse auf dem Asphalt aufschlagen.
Daß auch in scheinbar völlig verfahrenen Situationen eine Annäherung möglich ist, zeigt die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Rußland. Ein Ende des Ukraine-Konflikts ist in greifbare Nähe gerückt. Gleichzeitig wurden Schritte unternommen, um vorsichtige diplomatische Kontakte zwischen den USA und dem Iran zu knüpfen und das Atomabkommen neu zu verhandeln. Und obwohl die Lage in den Palästinensergebieten kaum zu beschreiben ist, hat sich Washington dem von der Arabischen Liga ausgearbeiteten Wiederaufbauplan nicht widersetzt.
Deutschland hätte das beginnende Tauwetter längst zur Kenntnis nehmen und über eine Neuausrichtung seiner Außenpolitik nachdenken können. Doch wie selbstverständlich hält man an der Stationierung deutscher Brigaden an der „NATO-Ostflanke“, an der „nuklearen Teilhabe in der NATO“ und an der „Abschreckungsfähigkeit“ (sprich: Aufrüstungsspirale) fest. Der neue Koalitionsvertrag bestätigt dies. Längst überfällig ist auch die Erkenntnis, daß die harten Sanktionen gegen Rußland das Land nicht isoliert haben und daß die proklamierte Rivalität mit China Deutschland weder wirtschaftlich noch anderweitig sicherer gemacht hat. Aber auch hier sucht man vergeblich nach einer korrigierenden Wende.
Dieser Marsch in den Abgrund ist unnötig, denn es gibt eine tragfähige Plattform, auf der eine friedlichere und wohlhabendere Zukunft für alle diskutiert und gestaltet werden kann. Es sind die BRICS-Länder, die im Format BRICS+ zusammen mit ihren Partnerländern bereits etwa die Hälfte der Weltbevölkerung und mehr als 40% des globalen BIP repräsentieren. Dutzende weitere Länder haben ihr Interesse an einer Mitgliedschaft öffentlich bekundet. Von besonderer Bedeutung sind dabei das Entwicklungspotenzial und die überdurchschnittlichen Wachstumsraten im Vergleich zur Stagnation in Deutschland. Denn über allem steht das Ziel, die Unterentwicklung zu überwinden, die oft das Ergebnis jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung durch Europa ist. Und auch wenn Länder wie Argentinien durch den toxischen Einfluss des IWF und neoliberaler/libertärer Politik zurückgeworfen werden, ist die Grundtendenz unaufhaltsam, daß die „Schocktherapien“ des von der Wall Street und der City of London dominierten Finanzsystems über Bord geworfen und durch wachstumsfördernde Investitionen – vor allem in Basisinfrastruktur und technologischen Fortschritt – ersetzt werden müssen. Hierfür haben die BRICS einen multilateralen Rahmen mit wachsendem Einfluß geschaffen. Hier liegen auch die langfristigen Chancen für Deutschland.
Beispiel Landwirtschaft: Das Agrarministertreffen von 11 BRICS-Staaten hat erklärt, den Aufbau einer BRICS-Getreidebörse zu unterstützen. Da auf die BRICS-Staaten über 40 Prozent der weltweiten Getreideproduktion entfallen, soll eine allgemein zugängliche Plattform für den Handel mit Agrarprodukten und Rohstoffen geschaffen werden. Denn langfristig stabile und bezahlbare Preise können Hunderte Millionen Menschen in den ärmsten Ländern vor dem Hungertod bewahren und unzähligen kleinbäuerlichen Familienbetrieben das Überleben sichern. Gefordert wurde auch ein besserer Zugang zu landwirtschaftlichen Technologien und Lagermöglichkeiten.
Deutschland könnte diese Initiative leicht aufgreifen und sein Know-how für die langfristige Beseitigung des Hungers einbringen, indem es bei der Verdoppelung der Nahrungsmittelproduktion hilft.
Brasilien, das in diesem Jahr die BRICS-Präsidentschaft innehat, hat das Thema Ernährungssicherheit zur Chefsache erklärt. Wenn wir hier eine BRICS-Landwirtschaftspartnerschaft anbieten würden, könnten viele Probleme durch Kooperation schneller gelöst werden und gleichzeitig Geschäftschancen und Völkerverständigung mit dem globalen Süden ausgebaut werden. Selbstverständlich müssen auch die Familienbetriebe in Deutschland von unsinnigen Auflagen befreit werden, die nichts zum Umweltschutz beitragen.
Beispiel Handel: Das BRICS-Land China ist heute der weltweit wichtigste Investor in Hafenbau und maritime Logistik. Hier gibt es enorme Synergieeffekte. Der mit chinesischen Investitionen errichtete Tiefseehafen in Peru ist bereits zum Zentrum einer Handelsrevolution in Lateinamerika geworden. Brasilien, Bolivien und andere Länder brauchen Straßen, Schienen und logistische Infrastruktur.
Deutschland, das seine Rolle als Weltexporteur sicher noch eine Weile behalten will, sollte hier Chancen sehen, einen ganzen Kontinent zu einer pulsierenden Zone wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung mitzugestalten. Der entstehende direkte Seeweg zwischen Südamerika und China, wo auch deutsche Unternehmen entwickeln und produzieren, wird neue Impulse geben, die auch in Deutschland zu spüren sein werden. Natürlich müßte dann auch in Deutschland das „Sondervermögen“ umgewidmet und statt in die tote Masse der Rüstungsgüter in die heimische Infrastruktur, allen voran die Bahn, investiert werden. Eine Wiederbelebung der deutschen Bauwirtschaft im In- und Ausland ist überfällig. Die typisch deutsche „pseudo-grüne“ Bürokratie kann dabei gleich mit entsorgt werden.
Ähnliche Chancen liegen in den Entwicklungsbedürfnissen Afrikas, die durch Projekte wie das Wasserkraftwerk „Grand Inga Dam“ am Kongo-Fluß und das Programm „Africa 2063“ zur Verbindung aller afrikanischen Städte durch Schnellbahnen eher erfüllt werden als durch irgendwelche inhaltsleeren Papiere der EU und der Klimagipfel-Gemeinde, die nur winzige „nachhaltige“ Projekte fördert und ansonsten skandalöserweise die für den Wohlstand Afrikas notwendige Industrialisierung verhindern will.
Viele Staaten sind in Afrika viel stärker engagiert als Deutschland, allen voran China mit Gaskraftwerken in der Republik Kongo oder einem Tiefseehafen in Nigeria. Denn allen ist klar, daß die Modernisierung Afrikas die Schicksalsfrage der Menschheit und insbesondere Europas ist. Entweder wir sind bereit, umfassende Wirtschaftspartnerschaften mit unserem südlichen Nachbarkontinent auf breiter Basis zu stärken, oder das entstehende Chaos wird maßgeblich auf unsere Kappe gehen. Die erforderlichen Investitionsinstrumente könnten wir schaffen. Die gute Nachricht auch für uns ist, daß die BRICS-Staaten massive globale Investitionen koordinieren wollen, etwa über eine BRICS-Investitionsplattform und eine Ausweitung der Aktivitäten der BRICS-eigenen Entwicklungsbank, der NDB. Um Mitglied der NDB zu werden, muß man nicht einmal BRICS-Mitglied sein. Deutschland könnte hier ein Zeichen setzen und mit einer Beteiligung vorangehen.
Wichtige Projekte finden wir zudem in der Entwicklung Eurasiens, dem größten und wahrscheinlich rohstoffreichsten Kontinent der Erde. Die Normalisierung der Beziehungen zu Moskau und die Wiederaufnahme langfristiger Energiepartnerschaften ist eine Überlebensfrage für die deutsche Industrie, die wegen zu hoher Erdgaspreise immer mehr ihre Produktion einstellen muß. Mit Usbekistan und Kasachstan unterhält Deutschland bereits enge wirtschaftliche Beziehungen. Aber Rußland zu umgehen, ist zwiespältig.
Auch in Südostasien spielen die BRICS-Staaten eine wachsende Rolle. Deutschland könnte ebenfalls verstärkt mit Indonesien, Malaysia, Thailand und vielen anderen aufstrebenden Staaten ins Geschäft kommen. Und was China angeht, ist eine Rivalität unsererseits ohnehin zum Scheitern verurteilt. Wir erleben gerade, wie China auf Trumps Zollkrieg mit Exportkontrollen für Seltene Erden reagiert. Diese Metalle werden in fast allen Technologiebereichen benötigt. China ist bei rund 90 Prozent der Spitzentechnologien in Forschung und Entwicklung führend. Kein deutsches Unternehmen, das bereits vor Ort ist, will sich davon abkoppeln. Wir sollten noch viel mehr deutsche Unternehmen an den chinesischen Markt heranführen und auch darauf drängen, daß das auf Eis liegende Investitionsabkommen zwischen der EU und China zügig umgesetzt wird.
Wir sollten eine Delegation zum nächsten BRICS-Gipfel im Juli nach Brasilien entsenden und multilaterale Beziehungen aufbauen. Dort hätten wir nicht nur eine Plattform für den Ausbau dringend benötigter Wirtschaftspartnerschaften, mit denen wir unsere Produktion und unsere Exporte ankurbeln könnten. Wir würden uns auch in die wichtigste Initiative zur Schaffung einer wirklich globalen Sicherheits- und Entwicklungsordnung einklinken, die den ursprünglichen Prinzipien der UN-Charta folgt und nicht einer willkürlichen „regelbasierten Ordnung“, die nirgendwo völkerrechtlich vereinbart ist und eine Neuauflage imperialer Ordnungen darstellt. Dort würden wir unweigerlich den Geist der Asien-Afrika-Kooperation spüren, wie er aus der Blockfreien Bewegung hervorgegangen ist. Gemessen an den realen Herausforderungen, eine faire und gleichberechtigte multipolare Welt zu gestalten, werden wir feststellen müssen, daß unsere Probleme hausgemacht und durch ideologische Verbrämung entstanden sind.
Wer diese reale Perspektive, Deutschland in eine neue gerechte Ordnung mit vielversprechenden Win-Win-Partnerschaften zu führen, voranbringen will, kommt nicht umhin, die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) zu unterstützen. Wer die vielen Initiativen und Publikationen der letzten drei Jahrzehnte verfolgt, erkennt, daß die BüSo immer wieder visionäre Programme entwickelt hat, die nicht schnelle Wahlgeschenke, sondern echte Zukunftsvisionen waren. Vom „Produktiven Dreieck“, das gleich nach dem Mauerfall eine gesamteuropäische Aufbauperspektive aufzeigte, über die „Eurasische Landbrücke“ oder die „Neue Seidenstraße“ als Wirtschaftsmotor der Welt, von der Idee eines von Spekulation befreiten Finanzsystems, das weltweit Entwicklung und Fortschritt fördert, bis hin zu bahnbrechenden Programmen wie dem Oasenplan zur Entwicklung Südwestasiens oder dem Transaqua-Programm für
Afrika, das gewaltige Wassertransfer- und Infrastrukturprogramme vorsieht. Und es war schon immer die BüSo, die eine kulturelle und moralische Erneuerung der Gesellschaft durch Rückbesinnung auf die Werte der großen Humanisten, Entdecker und Wissenschaftler von Leibniz über Schiller bis Einstein forderte. Denn materieller und geistiger Reichtum müssen zusammen wachsen.
Heute stehen wir an einer historischen Weggabelung, an der sich Deutschland entscheiden muss, ob es seinen Irrweg in die „Kriegstüchtigkeit“ fortsetzt oder gemeinsam mit den BRICS und dem globalen Süden an einer tragfähigen Friedens- und Entwicklungsarchitektur arbeitet. Um Letzteres zu erreichen, brauchen wir jetzt eine aktive und breite Mobilisierung!
Dieser Artikel ist Teil der neuen BüSo-Broschüre: Aufbau statt Kriegswirtschaft!