Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz oder Ursula von der Leyen verkünden, Deutschland bzw. Europa stünden einhundert Prozent hinter Israel, tun sie so, als gäbe es nur das eine Israel von Netanjahu und den radikalen Siedlern. Dagegen drücken einige israelische Medien aus, wieviel Wut sich in Teilen der Bevölkerung gegen die Regierung aufgestaut hat, weil sie bewußt die Bedingungen für den erneuten Ausbruch des Krieges mit der Hamas schuf. Auch die inzwischen gebildete Regierung der nationalen Einheit kann diesen Riß durch die israelische Gesellschaft nicht übertünchen. Folgende Beispiele geben Einblick in die Haltung dieser Opposition.
* Dmitry Shumsky ist Inhaber des Goldstein-Lehrstuhls für Geschichte des Zionismus und des Neuen Jischuw an der Hebräischen Universität. „Warum wollte Netanjahu die Hamas stärken?“ lautet der Titel seines Artikels in Ha'aretz vom 11. Oktober. Er führt den Angriff der „islamistisch-nationalistischen Falangisten aus dem Gefängnis Gaza auf israelische Bürger“ auf die Zeit zurück, als Netanjahu 2009 zum zweiten Mal Ministerpräsident war. Seitdem „hat Netanjahu eine zerstörerische, verzerrte politische Doktrin entwickelt und vorangetrieben, wonach eine Stärkung der Hamas auf Kosten der Palästinensischen Autonomiebehörde gut für Israel wäre. Der Zweck dieser Doktrin bestand darin, die Kluft zwischen der Hamas im Gazastreifen und der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland aufrechtzuerhalten. Das sollte die diplomatische Lähmung aufrechterhalten und die ,Gefahr‘ von Verhandlungen mit den Palästinensern über die Teilung Israels in zwei Staaten für immer beseitigen, mit dem Argument, daß die Autonomiebehörde nicht alle Palästinenser vertritt...“
* Im Leitartikel von Ha'aretz vom 8. Oktober mit der Überschrift „Netanjahu trägt die Verantwortung für den Israel-Gaza-Krieg“ heißt es, die Katastrophe „ist eindeutig die Verantwortung einer Person: Benjamin Netanjahu“. Er habe „die Gefahren nicht erkannt, in die er Israel bewußt hineinführte, als er eine Regierung der Annexion und Enteignung schuf..., während er eine Außenpolitik verfolgte, welche die Existenz und die Rechte der Palästinenser offen ignorierte“. Die Redaktion erinnert daran, daß Netanjahu, nachdem er im Dezember 2022 zum dritten Mal Ministerpräsident geworden war, mit „offenen Schritten zur Annexion des Westjordanlands, zur Durchführung ethnischer Säuberungen in Teilen des vom Osloer Abkommen definierten Gebiets C begann... Dazu gehörten eine massive Ausweitung der Siedlungen und die Verstärkung der jüdischen Präsenz auf dem Tempelberg, in der Nähe der Al-Aqsa-Moschee, sowie die Prahlerei mit einem bevorstehenden Friedensabkommen mit den Saudis, bei dem die Palästinenser nichts bekommen würden, mit offenem Gerede über eine ,zweite Nakba‘ in seiner Regierungskoalition.“ (Nakba war die Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern aus ihrem Land 1948.)
* Shelly Yachimovich war Vorsitzende der Arbeitspartei und Oppositionsführerin in der Knesset. Sie schreibt in Yediot Ahronot (10.10.): „Netanjahu ist der Hauptschuldige an der schrecklichen Katastrophe, die uns jetzt widerfährt.“ Sie zählt Verbrechen auf, für die er verantwortlich sei, u.a. „die Hamas zu fördern und mit allen Wohltaten zu überschütten, wie es kein Regierungschef vor ihm getan hat, und das alles, um die Palästinensische Autonomiebehörde und ihren Regierungschef zu schwächen, auszutrocknen und herabzusetzen - den vielleicht letzten pragmatischen, nicht-fundamentalistischen Palästinenserführer, mit dem man eine Einigung erzielen konnte. Schuldig, nie eine Strategie zur Lösung des blutigen Konflikts mit unseren Nachbarn formuliert zu haben... Netanjahu muß gehen.“
* Sever Plocker, Chefredakteur von Yediot Ahronot, Israels auflagenstärkster Zeitung, betitelt seinen Kommentar vom 10. Oktober: „Netanjahu und seine messianischen Kohorten müssen gehen“. Die Regierung habe mit ihrer „katastrophalen, perversen Prioritätenliste“ Israel in jeder Hinsicht im Stich gelassen. So habe sie sich fast ausschließlich auf umstrittene Justizgesetze konzentriert und vor den finanziellen und politischen Forderungen ihrer ultraorthodoxen Mitglieder kapituliert. „Die Regierung und ihr Ministerpräsident hatten keine Zeit, keinen Willen und kein Interesse, sich mit Israels Wirtschaft, sozialen Problemen, Bildung, Gesundheit oder Sicherheit zu befassen. Jawohl, Sicherheit... Dieses schändliche Versagen kann nur zu einer einzigen Schlußfolgerung führen, unabhängig von den politischen Ansichten: Es reicht! Gehen Sie!“ Netanjahus „Koalition und ihre Helfershelfer müssen gehen... Sie sollten gehen, ihre Köpfe in Schande senken und abtreten, je früher desto besser...“
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