von Alexander Hartmann
US-Präsident Joe Biden wurde am 1. November bei einer Rede vor Wahlkampfunterstützern von einer Rabbinerin konfrontiert, die ihm sagte: „Herr Präsident, wenn Sie sich um das jüdische Volk sorgen, dann muß ich Sie in meiner Eigenschaft als Rabbinerin sofort zu einem Waffenstillstand aufrufen.“ Aber Biden brachte in seiner Antwort das Wort „Waffenstillstand“ nicht über die Lippen, stattdessen sprach er von einer „Pause“, um die Geiseln freizulassen – als ob die Massenmorde an palästinensischen Zivilisten nicht das Problem wären, als ob die praktizierte „Kollektivstrafe“ an Unschuldigen nicht auch das jüdische Volk selbst, seine Seele, seine Kultur und Identität zerstören würde.
Auf die Massentötung von Zivilisten im Gazastreifen angesprochen, wich Biden aus, indem er Zweifel an den Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza äußerte. Die Vereinten Nationen konstatieren jedoch, daß die Zahlen des Ministeriums in früheren Situationen immer mit den UN-Zahlen übereinstimmten. Nach den Angaben aus Gaza starben in den ersten 25 Tagen des aktuellen Konflikts rund 9000 Menschen, darunter 3760 Kinder und davon 615 Babys. Kein Kind trägt irgendeine „kollektive Mitschuld“ an den Verbrechen der fanatischen Hamas-Krieger (d.h. der Muslimbrüder). AP zitierte treffend den Zimmermann Achmed Modawich aus Gaza-Stadt, dessen achtjährige Tochter schon im Mai getötet wurde: „Es ist ein Fluch, Vater oder Mutter in Gaza zu sein.“
Noch grundlegender ist jedoch eine andere Frage. Der republikanische US-Senator Lindsey Graham behauptet, Israel hätte das Recht, ganz Gaza dem Erdboden gleichzumachen, wie die Amerikaner Hiroshima mit dem Atombombenabwurf. Aber stimmt es wirklich, daß die USA ein Recht dazu hatten, weil Japan Pearl Harbor angegriffen hatte? Daß die USA im Irak und in Afghanistan Millionen Menschen umbringen durften, weil radikale Islamisten an den Angriffen vom 11. September 2001 beteiligt waren? Daß sich das Judentum nur über Hitlers Völkermord definiert? Daß den Opfern Gerechtigkeit widerfährt und die Welt besser wird, wenn sie sich an ihren Peinigern und allen um sie herum grausam rächen?
China hat im November den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat inne und hat angekündigt, daß ein Waffenstillstand und die viel zu lange aufgeschobene Umsetzung der UN-Beschlüsse zur Zweistaatenlösung für Israel und Palästina Priorität haben werden. Papst Franziskus hat gerade erklärt, daß es angesichts der tragischen Geschehnisse keine Alternative zum Frieden gibt, nämlich einem Frieden auf der Grundlage des Osloer Abkommens von 1993 zwischen Jitzhak Rabin und Jassir Arafat.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat gerade einen Appell wiederholt, den er schon vor mehr als zwei Wochen formuliert hatte: „Unser Ziel ist es, unsere Region aus dem Strudel herauszuholen, in den sie hineingezogen wurde.“ Dazu müsse zunächst ein Waffenstillstand ausgerufen und dann der Weg zu einem dauerhaften Frieden geebnet werden. Er wiederholte seine Forderung nach einer „internationalen Friedenskonferenz für Palästina-Israel“ und erklärte, daß „in Zusammenarbeit mit den regionalen Akteuren ein neuer Sicherheitsmechanismus geschaffen werden muß“. Die Türkei sei bereit, Verantwortung zu übernehmen, wenn ein solcher Schritt unternommen wird.
Diese Perspektive muß überall in die Diskussion kommen, und zwar dringend. Zuletzt gab es innerhalb von 36 Stunden zwei Luft- und Bodenangriffe der israelischen Streitkräfte, bei denen die größte Konzentration von Flüchtlingen in ganz Gaza, das Flüchtlingslager Jabalia, bombardiert wurde. Allein die Tatsache, daß dieses Lager schon 1948 errichtet wurde und nach 75 Jahren immer noch existiert, zeigt, was seit langem an dem herrschenden geopolitischen System falsch ist. Sogar Associated Press berichtete, wie man nach den Angriffen verstörte Kinder sah, die andere Kinder in den Armen trugen.
Diejenigen, die den Mut haben, ihre Stimme zu erheben – und das tun immer mehr –, müssen die Diskussion über konkrete Lösungen anregen. Zu den Stimmen, die in den letzten Tagen laut wurden, gehört auch ein hochrangiger UN-Beamter, Craig Mokhiber, UN-Direktor des New Yorker Büros des Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR). Er trat am 28. Oktober wegen der unerträglichen Situation zurück und warf den Vereinten Nationen vor, völlig darin versagt zu haben, das „Schulbeispiel eines Völkermords“, wie er sich ausdrückte, in Gaza zu stoppen. Mokhiber, ein Menschenrechtsanwalt, der seit 30 Jahren für die UNO arbeitet, schrieb, die UNO habe einmal „Prinzipien und Autorität“ gehabt, die in der Integrität der Organisation verwurzelt waren. Aber im Laufe der Jahre habe sie diese verloren und wiederholt nichts getan, um Völkermorde zu stoppen. „In den letzten Jahrzehnten haben wichtige Teile der UN vor der Macht der USA und der Angst vor der Israel-Lobby kapituliert, diese Prinzipien aufgegeben und sich vom Völkerrecht verabschiedet. Wir haben dabei viel verloren, nicht zuletzt unsere eigene, weltweite Glaubwürdigkeit. Aber den größten Verlust durch unser Versagen hat das palästinensische Volk erlitten“, so sein Vorwurf.
In den USA ist ein hoher Beamter des Außenministeriums, Josh Paul, Ende Oktober aus Protest zurückgetreten und gibt fast täglich Medieninterviews, um die Regierungen anzuprangern, die sich weigern, etwas gegen die Greueltaten in Gaza zu unternehmen. Am 4. November findet in Washington eine landesweite Demonstration statt, um das Töten zu beenden und den Weg für humanitäre Hilfe und Frieden zu ebnen.
Aber der Weltfrieden ist nicht nur durch die Vorgänge in Israel und Palästina bedroht. Eine deutliche Warnung vor der extremen Gefahr, in der wir uns befinden, kommt von einer prominenten russischen Stimme, Fjodor Lukjanow, der unter anderem Chefredakteur von Russia in Global Affairs ist. In einem Interview mit der Komsomolskaja Prawda sagte Lukjanow:
„Die nicht abreißende Serie von Konflikten ist praktisch ein neuer Weltkrieg… Die internationale Ordnung zerfällt. Sie war eine unschöne Ordnung, die auf der Angst vor gegenseitiger Zerstörung beruhte, aber man konnte damit umgehen. Kriege im Nahen Osten hat es schon früher gegeben, aber die UdSSR und die USA haben eingegriffen und das Feuer gelöscht, bevor es zum nächsten Konflikt kam. Aber heute sehe ich noch nicht einmal einen vorläufigen Mechanismus zur Beilegung.“
Was die geschundene Welt jetzt braucht, ist eine neue Sicherheitsarchitektur nach dem Vorbild des Westfälischen Friedens, die auf gegenseitigem wirtschaftlichem Nutzen beruht, sonst wird die alte Ordnung in Rauch aufgehen und Chaos und Untergang herrschen.
Helga Zepp-LaRouche betonte am 1. November in ihrem wöchentlichen Internetforum, was derzeit in Gaza passiere, sei „einfach unglaublich... Es ist wirklich wichtig, daß die Menschen das nicht verdrängen: das Töten, das unter dem Vorwand, die Hamas loszuwerden, stattfindet, die Bombardierung von Flüchtlingslagern und wehrlosen Zivilisten, die Tausende von Kindern umbringt! Die Welt muß aufwachen.“
Sie appellierte: „Ich möchte die Menschen, die dieser Sendung zuhören, ernsthaft dazu auffordern, sich mit dem auseinanderzusetzen, was tatsächlich geschieht, und es nicht mit der Vorstellung, daß man irgendwelche vorgefertigten Meinungen haben könnte, beiseite zu schieben… Es ist wirklich der Test für die Moral der Menschheit, ob wir das stoppen können.“
Dies sei sehr wichtig, „weil ein Klima geschaffen wurde, in dem man in einigen Ländern – wie zum Beispiel in Deutschland – nicht einmal mehr über diese Dinge reden kann. Das ändert sich langsam, aber in den ersten Tagen des Geschehens herrschte eine absolute Sperre; man konnte keine Besorgnis über die Notlage der Palästinenser äußern, ohne beschuldigt zu werden, antisemitisch oder israelfeindlich zu sein, aber beides ist nicht dasselbe! In Israel ist die Unterstützung für die Invasion des Gazastreifens von 69% nach dem 7. Oktober auf inzwischen etwa 20% gesunken. Die israelische Bevölkerung steht also nicht dahinter.
Es ist wirklich wichtig, daß wir die Bevölkerung mobilisieren, denn das muß aufhören! Es muß eine weltweite Mobilisierung von Menschen geben, die sich einmischen. Denn wenn wir dem nicht Einhalt gebieten, hat es das Potential, zum Ende der Zivilisation zu führen, weil wir am Rande des Dritten Weltkriegs stehen.“
Deshalb sei es dringend notwendig, betonte Helga Zepp-LaRouche, daß sich Institutionen – Regierungen, Vereinigungen, Kirchen und andere gesellschaftliche Kräfte – für eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur einsetzen, wie sie sie im November 2022 gefordert hatte. „Die Menschen sollten jetzt ihre Liebe zur Menschheit und ihre intellektuellen Fähigkeiten einsetzen, um einen Schritt voraus zu denken. Als erstes sollten sie die Petition ,Wir brauchen einen globalen Ansatz gegen den Teufelskreis der Gewalt in Südwestasien‘ lesen, unterschreiben und verbreiten.
Und dann entschließen Sie sich dazu, mehr wissen zu wollen als der bedauernswerte Joe Biden – zumindest genug, um die Grundlagen dessen zu vermitteln, was die große Mehrheit der Juden und Muslime in Israel und Palästina und ihre Nachbarn brauchen, um zu prosperieren: den ,Oasenplan‘.“
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