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Ergreift Scholz die BRICS-Perspektive - oder stürzt der Einäugige mit den Blinden?

Von Alexander Hartmann

Der Kampf um ein neues Weltsystem, das die Richtung der Welt für die kommenden Jahrzehnte und darüber hinaus bestimmen wird, ist eindeutig im Gange. Einige Aspekte davon mögen sich an der Oberfläche sichtbarer abspielen, wie der Stellvertreterkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland in der Ukraine, aber auch die tieferen Elemente, die eigentlich schon seit Jahrzehnten im Spiel sind, zeigen sich allmählich deutlicher als je zuvor.

Dies hat sich nach dem erstaunlichen Echo auf den BRICS-Plus-Gipfel in Südafrika im August, bei dem sechs neue Mitglieder aufgenommen wurden und Dutzende weitere Länder ihr Interesse an einem Beitritt bekundeten, noch weiter beschleunigt. Die Fraktionen im Westen, die darin eine Bedrohung für ihre Kontrolle über die Welt sehen, beginnen nun auf verschiedene Weise darauf zu reagieren, weil sie nicht einsehen wollen, daß ihr eigenes System vor dem Untergang steht.

Ihr unmittelbares Angriffsziel ist Argentinien, eines der sechs neuen Mitgliedsländer, wo ein existentieller Kampf stattfindet. Die am 22. Oktober anstehende Präsidentschaftswahl entwickelt sich zum ersten Schlachtfeld zwischen dem neu erweiterten BRICS-11-Prozeß und den dadurch bedrohten Interessen des transatlantischen Finanzsystems. Der Plan dieser Interessen ist es, Argentiniens Wirtschaft durch Schuldknechtschaft und Kapitalflucht zu ruinieren, um die Regierung von Präsident Alberto Fernández und deren Kandidaten, Wirtschaftsminister Sergio Massa, zu diskreditieren und so den Sieg ihrer Marionette, des abstrusen Präsidentschaftskandidaten Javier Milei, sicherzustellen. Aufgrund dieser Finanzkriegsführung lebt inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung Argentiniens in Armut, infolge der Forderungen des Weltwährungsfonds (IWF) liegen die Inflation bei 108% und die Zinssätze bei 118%!

Der psychisch labile Milei hat versprochen, im Falle eines Wahlsieges die BRICS-Mitgliedschaft noch vor dem offiziellen Aufnahmedatum am 1. Januar 2024 aufzugeben. Er will die Landeswährung Peso (und damit die Souveränität des Landes) abschaffen und durch den Dollar ersetzen, die Beziehungen zu China, Rußland und den meisten Nachbarländern abbrechen und eine extrem neoliberale Politik umsetzen, die der Wirtschaft den Todesstoß versetzen würde.

Das Schiller-Institut interveniert in diese Lage mit einem „Notprogramm zur Rettung Argentiniens“. Es umfaßt eine Reihe von Sofortmaßnahmen, die Fernández und Massa noch vor der Wahl in Kooperation mit ihren BRICS-Partnern ergreifen müssen, um das Land schnell zu stabilisieren. Gleichzeitig können diese Maßnahmen auch als Beispiel für die Welt dienen. Dazu gehören:

- ein sofortiges Moratorium auf die Bedienung der Auslandsschulden, einschließlich der 46 Mrd.$ an den IWF (der höchste Betrag, den ein Land schuldet),

- Verhängung von Kapital- und Devisenkontrollen und

- Festlegung einer festen Parität zwischen dem Peso und dem Dollar, über die die argentinische Regierung souverän entscheidet.

Des weiteren sieht das Sofortprogramm des Schiller-Instituts eine massive Zufuhr von produktivem Kredit u.a. für große Infrastrukturprojekte und Weltraumforschung vor.

„Von einer BIP-zentrierten zu einer menschenzentrierten Sichtweise“

Aber Argentinien ist nicht der einzige Schauplatz dieses Kampfes. Auf dem G20-Gipfel, der nach Redaktionsschluß vom 9.-10. September in Neu-Delhi stattfindet, möchte die EU die Abwesenheit des russischen und des chinesischen Präsidenten nutzen, um die afrikanischen Delegierten unter Druck zu setzen. Einem Bericht von Bloomberg zufolge werden Ursula von der Leyen, Charles Michel und andere vorschlagen, als „Gegengewicht“ zu den zahlreichen russischen und chinesischen Initiativen die Partnerschaft der EU mit Afrika „neu zu definieren“.

Angesichts der Bilanz der „unipolaren Welt“ bei der (Nicht-)Befreiung des Globalen Südens vom Neokolonialismus sind solche Versuche jedoch wenig erfolgversprechend. Die Präsidentin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, kommentierte diese Bestrebungen in ihrem Live-Dialog im Internet am 6. September:

„Ich würde sagen, das kommt zu spät. Denn das Bewußtsein der Länder des Globalen Südens, in Lateinamerika, in Afrika, in Asien, über diese neue strategische ,Spaltung‘ - daß die Mehrheit dessen, was man früher die Blockfreien-Bewegung nannte, nun ernsthaft versucht, ihr eigenes Wirtschaftssystem zu errichten, das die Entwicklung aller ermöglicht -, das ist nicht mehr aufzuhalten. Und ich bin überzeugt, daß kein Putsch, kein Versuch, sie durch Farbrevolutionen und die üblichen Methoden zu destabilisieren, das aufhalten kann, denn wir befinden uns gerade in einem historischen Umbruch, wie er einmal in tausend Jahren vorkommt, weil damit der Kolonialismus endet, der um 1500 begann.“

Ein Insider, der selbst intensiv am Aufbau dieses neuen Wirtschaftssystems beteiligt ist, habe ihr bestätigt, „daß die Dynamik des Aufbaus eines neuen Wirtschaftssystems mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit voranschreitet, die selbst ihn, der in diesen Dingen ein alter Hase ist, völlig überrascht. Denn die Dinge entwickeln sich sehr schnell.“

Die Tatsache, daß Rußland und China beim G20-Gipfel nicht durch ihre Staatsoberhäupter vertreten sind, sondern nur ihre Premier- bzw. Außenminister schicken, könne man auch so interpretieren, „daß der Vertrauensbruch zwischen dem Globalen Süden und der NATO so tief sitzt, daß sie andere Treffen vielleicht für wichtiger halten“. Beispielsweise würden auf dem ASEAN-Gipfel vom 2.-7. September im indonesischen Jakarta und beim Östlichen Wirtschaftsforum vom 10.-13. September im russischen Wladiwostok zahlreiche konkrete Verträge und Investitionspläne ausgehandelt.

Der indische Ministerpräsident Modi, Gastgeber des G20-Gipfels, ist eindeutig optimistisch hinsichtlich der neuen Orientierung, für die sich die große Mehrheit der Welt entscheidet. Gegenüber dem Press Trust of India (PTI) erklärte er, die G20 sei zwar eine einflußreiche Gruppierung im Hinblick auf ihre geballte Wirtschaftskraft, aber „aus einer Sicht der Welt mit dem BIP im Mittelpunkt wird nun eine Sicht mit dem Menschen im Mittelpunkt“. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Weltordnung entstanden sei, nehme auch jetzt wieder eine neue Weltordnung Gestalt an.

„Der Wechsel zu einem auf den Menschen ausgerichteten Ansatz hat weltweit begonnen, und wir spielen die Rolle eines Katalysators", erklärte er. „Indiens G20-Vorsitz sät auch in den Ländern der sogenannten Dritten Welt die Saat des Vertrauens.“ Modi wies das monetaristische Buchhalterdenken zurück: „Lange Zeit wurde Indien als ein Land mit über einer Milliarde hungriger Mägen wahrgenommen. Aber jetzt sieht man Indien als ein Land mit über einer Milliarde aufstrebender Köpfe, mehr als zwei Milliarden geschickter Hände und Hunderten von Millionen junger Menschen.“

Deutschland im Rückwärtsgang

Eine solche Perspektive ist genau das, was die gesamte Menschheit jetzt dringend braucht. Aber wie Helga Zepp-LaRouche in ihrem Internetforum betonte, ist das westliche Establishment „absolut nicht gewillt anzuerkennen, daß all das, was geschieht, nicht das böse Werk Rußlands oder Chinas oder anderer ist, sondern die Reaktion auf ihre eigene Politik“. Es sei klar, „daß der sogenannte Globale Norden, d. h. die nordatlantischen Länder auf beiden Seiten des großen Teichs, nicht darüber nachdenkt, was es bedeutet, daß sich die Mehrheit der Welt in eine andere Richtung bewegt“.

Vor diesem Hintergrund sprach sie dann auch über die Lage in Deutschland, wo die Regierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz immer nur auf Amerika schaue. Sie scherzte: „Ich denke, daß er die Augenklappe wahrscheinlich trägt, damit er den Rest der Welt nicht sehen muß: So kann er einfach seinem Tunnelblick folgen und ein guter Vasall sein… Wenn man sich die Richtung der deutschen Politik unter dieser Führung anschaut, erinnert sie mich an eine Schildkröte, die ihren Kopf nach innen gezogen hat und sich dann rückwärts bewegt.“

Die deutsche Bevölkerung sei deshalb „in einem höchst angespannten Zustand… Wenn Sie jemanden fragen, dann antworten sie: ,Alles, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, bricht zusammen! Die machen es kaputt! Alle die Gesetze, die sie machen, ruinieren Deutschland!‘ Das ist die Stimmung in Deutschland. Die Menschen sind wütend.“

Aber die Menschen wüßten nicht so recht, was sie tun sollen, weil sie nicht verstehen, daß der Weg aus der Wirtschafts- und Finanzkrise für Deutschland und Europa in einer umfassenden Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden liegt. Deshalb sei es heute das wichtigste, die Nachrichten über die Aktivitäten der BRICS zu verbreiten. „Denn wenn die Menschen in Deutschland verstünden, daß die BRICS-Länder nicht der Feind Deutschlands sind, sondern der Partner und der potentielle zukünftige Ausweg, dann kann die Sache gelöst werden.“

Deutschland sei mindestens seit Bismarcks Zeiten eine exportorientierte Nation und habe nicht viele Rohstoffe; es verdanke seinen hohen Lebensstandard der schnellen wissenschaftlich-technischen Entwicklung und dem Export dieser Waren, die dann mit dem Label „Made in Germany“ weltberühmt wurden. „Die Leute sagten: ,Oh, made in Germany, das ist hohe Qualität‘, und deshalb haben sie diese Produkte gekauft, selbst wenn sie ein bißchen teurer waren als die aus anderen Ländern, weil es für hervorragende Qualität stand. Und das verschwindet jetzt. Deutschland fällt zurück, bei den Patenten, bei den Autoexporten. Deutschland war einmal ein führendes Autoexportland; jetzt fällt es sehr schnell zurück.“ Und damit gehe auch vieles andere unter.

„Deutschland steht also vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, den ich für den kommenden Herbst und Winter voraussage, und zwar einem im großen Stil. Denn dann werden die hohen Energiepreise dazu führen, daß es viele Menschen hart trifft, daß viele Betriebe pleite gehen, was ja jetzt schon passiert - Gastronomie, Handwerk, mittelständische Industrie, alles wird zusammenbrechen. Und an diesem Punkt wird die Lage meiner Meinung nach explodieren. Und deshalb ist es extrem wichtig, daß die Nachricht über das Potential der Zusammenarbeit mit den BRICS-Ländern bei der Entwicklung des Globalen Südens der Punkt ist, der die Richtung Deutschlands wirklich ändern kann.“