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Eine Frage an unsere Menschlichkeit: Weinen palästinensische Kinder anders?

Von Alexander Hartmann

„Eine Grenze hat Tyrannenmacht“, sagt Schiller. „Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich zur Gerechtigkeit“, sagt Martin Luther King. „Man kann einige Menschen immer täuschen, und alle Menschen eine Zeitlang, aber man kann nicht alle Menschen immer täuschen“, sagt Abraham Lincoln.

In diesen Worten steckt sicherlich ein tiefer, zeitloser Optimismus. Aber in dunklen, trostlosen Zeiten voller unmenschlicher Ereignisse, wie jetzt dem täglichen erbarmungslosen Massenmord an Frauen, Kindern und Alten in Gaza, erscheinen sie uns nur wie nett gemeinte Sprüche, die nicht wirklich auf das wahre Leben anwendbar sind. Allein im vergangenen Monat starben durch Israels Militäraktionen mehr als 10.000 Palästinenser in Gaza, davon über 7500 Frauen, Kinder und alte Menschen. Schwer zu glauben, daß es sich dabei um Hamas-Krieger handelte. Unter den Augen einer entsetzten Welt ist der Anteil der Frauen, Kinder und Alten unter den Todesopfern in Gaza von zuerst 67% noch weiter auf über 73% gestiegen. Die UNO gibt an, daß im Durchschnitt jeden Tag 160 Kinder aus dem Gazastreifen auf diese Weise sterben. Wäre die Bevölkerung des Gazastreifens so groß wie diejenige Deutschlands, entspräche das 6000 Kindern pro Tag.

UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat die grundlegende Frage aufgeworfen, der sich jeder Mensch auf der Welt angesichts des Tötens in Südwestasien stellen muß: „Wir müssen einen Weg finden, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu bewahren: Der Alptraum in Gaza ist mehr als eine humanitäre Krise. Es ist eine Krise der Menschlichkeit… Meine Damen und Herren von der Presse, der Gazastreifen wird zu einem Kinderfriedhof“, erklärte Guterres am 6. November vor Reportern. „Die sich entfaltende Katastrophe macht die Notwendigkeit eines humanitären Waffenstillstands mit jeder Stunde dringlicher. Die Kriegsparteien und auch die internationale Gemeinschaft stehen vor einer unmittelbaren und grundlegenden Verantwortung: dieses unmenschliche kollektive Leiden zu beenden und die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen drastisch auszuweiten.“

Er kündigte an, daß die Vereinten Nationen einen Aufruf zur Bereitstellung von 1,2 Milliarden Dollar für humanitäre Hilfe starten, um den über 2 Millionen Menschen im Gazastreifen zu helfen, sowie einer weiteren halben Million Menschen im Westjordanland, die dringend darauf angewiesen sind. Die Hilfe, die in den letzten zwei Wochen über den Grenzübergang Rafah lief, sei geringer als die Lieferungen, die vor dem 7. Oktober täglich ankamen. „Und das Entscheidende ist, daß darin kein Treibstoff enthalten ist“, erklärte er und erläuterte die Folgen: „Ohne Treibstoff sterben Neugeborene in Brutkästen und Patienten an lebenserhaltenden Maschinen. Wasser kann nicht gepumpt oder gereinigt werden. Unbehandelte Abwässer können bald auf die Straßen fließen und Krankheiten weiter verbreiten. Lastwagen mit lebenswichtigen Hilfsgütern können nicht fahren.“

Der nächste Schritt sollte klar sein: ein humanitärer Waffenstillstand – sofort. „Alle Parteien müssen ihre Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht einhalten“, betonte Guterres. Das bedeutet, daß „mehr Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente und natürlich Treibstoff sicher, schnell und in der benötigten Menge in den Gazastreifen gelangen müssen – und zwar sofort.“

Die Gewalt nehme zu, das besetzte Westjordanland stehe „am Siedepunkt“ und der Konflikt drohe auf die gesamte Region überzugreifen. „Kühle Köpfe und diplomatische Bemühungen müssen sich durchsetzen. Die haßerfüllte Rhetorik und die provokativen Aktionen müssen aufhören“, betonte er mehrfach in seiner Erklärung. „Wir müssen einen Weg finden, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu bewahren.“

Als Denkanstoß zitierte er, was ihm eine israelische Mutter, deren Kind in einem Tunnel in Gaza als Geisel festgehalten wird, gesagt hatte, als er sich vor zehn Tagen mit Familienangehörigen von Geiseln traf: „Wenn man sich nur empört, wenn die Babys der einen Seite getötet werden, dann ist der moralische Kompaß kaputt und die Menschlichkeit weg.“ Guterres fügte hinzu: „Selbst in ihrer völligen Verzweiflung stand sie vor der Welt und erinnerte uns daran: In einem Wettbewerb des Schmerzes gibt es nie einen Gewinner. Wir müssen jetzt handeln, um einen Ausweg aus dieser brutalen, schrecklichen, quälenden Sackgasse der Zerstörung zu finden. Wir müssen helfen, den Schmerz und das Leiden zu beenden. Helfen, die Gebrochenen zu heilen. Und helfen, den Weg zum Frieden zu ebnen, zu einer Zwei-Staaten-Lösung, in der Israelis und Palästinenser in Frieden und Sicherheit leben.“

Dissens im US-Außenministerium

Auch andere hören auf die Stimme ihres Gewissens. Das US-Portal Politico1 berichtete am 6. November über ein Memorandum von Mitarbeitern des US-Außenministeriums, das als „vertraulich, aber nicht geheim“ gekennzeichnet ist und in dem Israels Gaza-Politik kritisiert wird. Politico zitiert zwei Hauptforderungen: „…daß die USA sich für einen Waffenstillstand einsetzen und daß sie ihre privaten und öffentlichen Botschaften gegenüber Israel ausbalancieren und auch Kritik an israelischen Militärtaktiken und der Behandlung von Palästinensern äußern, welche die USA sonst lieber für sich behalten… Das spiegelt die Gefühle vieler US-Diplomaten wider, insbesondere auf mittlerer und unterer Ebene.“

Das Verhalten der US-Regierung, warnen die Autoren, trage dazu bei, „daß die Öffentlichkeit in der Region den Eindruck gewinnt, die Vereinigten Staaten seien ein voreingenommener und unehrlicher Akteur, was im besten Fall die Interessen der USA weltweit nicht gerade fördert und ihnen im schlimmsten Fall schadet. Wir müssen Israels Verstöße gegen internationale Normen öffentlich kritisieren, wie z.B. das Versäumnis, offensive Operationen auf legitime militärische Ziele zu beschränken… Wenn Israel Siedlergewalt und illegale Landnahme unterstützt oder exzessive Gewalt gegen Palästinenser anwendet, müssen wir öffentlich kommunizieren, daß dies gegen unsere amerikanischen Werte verstößt, damit Israel nicht ungestraft handelt.“ Die Passivität der USA angesichts des Ausmaßes der zivilen Todesopfer „weckt Zweifel an der regelbasierten internationalen Ordnung, für die wir seit langem eintreten“.

Das Außenministerium lehnte es ab, das Memorandum direkt zu kommentieren. Politico schreibt: „Im Außenministerium sind mehrere kritische Memoranden zu diesem Krieg in Umlauf, um Unterschriften zu sammeln… Das Memo, das Politico erhalten hat, wurde von zwei Mitarbeitern der mittleren Ebene verfaßt, die im Nahen Osten gearbeitet haben, sagte ein Mitarbeiter des Ministeriums, der das Dokument gesehen hat und dem Anonymität zugesagt wurde, um über ein sensibles Thema zu sprechen.“

Das Memo deutet auf die wachsende Spannung und Uneinigkeit über die Situation an der Regierungsspitze hin, und die ist wahrscheinlich viel größer, als berichtet wird. In einem Bericht der Huffington Post vom 3. November heißt es, Außenminister Blinken habe bereits ein privates Treffen mit Beamten des Ministeriums abgehalten, die einen formellen Dissens in der Angelegenheit vorbrachten.

Kongreß-Mitarbeiter protestieren

Am 8. November legten über 100 Mitarbeiter und Beamte des US-Kongresses ihre Arbeit nieder, um eine öffentliche Mahnwache für die über 10.000 palästinensischen und über 1300 israelischen Toten des vergangenen Monats abzuhalten und um ihre Chefs aufzufordern, auf die Wähler zu hören und sich für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza einzusetzen. Offensichtlich wundern sie sich über die Harthörigkeit ihrer Chefs. Und sie nehmen sich offenbar zu Herzen, daß palästinensische Kinder nicht anders weinen als israelische und umgekehrt.

Common Dreams zitierte verschiedene Teilnehmer. „Wir sind Mitarbeiter des Kongresses auf dem Capitol Hill, und wir können nicht länger schweigen.“ Ein anderer: „Wir waren entsetzt über die brutalen Angriffe auf israelische Zivilisten am 7. Oktober, und wir sind entsetzt über die völlig überzogene Reaktion der israelischen Regierung, die Tausende von unschuldigen palästinensischen Zivilisten in Gaza tötet. Unsere Wähler drängen auf einen Waffenstillstand, und wir sind die Mitarbeiter, die jeden Tag ihre Anrufe entgegennehmen.“ Ein dritter: „Die meisten unserer Chefs auf dem Capitol Hill hören nicht auf die Menschen, die sie vertreten. Wir verlangen, daß unsere Oberen das Wort ergreifen: Fordern Sie einen Waffenstillstand, die Freilassung aller Geiseln und eine sofortige Deeskalation!“

Schon am 19. Oktober hatten Hunderte von muslimischen und jüdischen Kongreßmitarbeitern in einem offenen Brief die Abgeordneten aufgefordert, einen Waffenstillstand im Gazastreifen zu fordern.

Die wachsende Zahl derer, die gegen das Gemetzel protestieren, zeigt uns, daß Präsident Lincoln recht hatte. Und warum kann man nicht alle Menschen immer täuschen? Weil es sonst gar keine Menschheit gäbe. Damit Gesellschaften überleben können, müssen genügend Menschen sich oft genug der Realität stellen. Tyrannen, die meinen, völlige Unterwürfigkeit züchten zu müssen, haben am Ende eine Bevölkerung, die nicht mehr überlebensfähig ist.

Aber es reicht nicht, nur zu protestieren. Die entscheidende Herausforderung des Friedens ist nicht die Einstellung der Kämpfe, sondern die positive Absicht, etwas Gutes, etwas Menschliches zu schaffen. Nur eine solche Lösung - zum Wohle von Palästinensern und Israelis – wird funktionieren, und alles andere wird scheitern. Die Mobilisierung für einen Waffenstillstand darf nicht nachlassen, aber der Schlüssel zum Frieden ist die Aufgabe, die das Universum der Menschheit stellt: Wüsten in grüne, fruchtbare Oasen zu verwandeln. Wenn wir nicht auf diesen Ruf des Universums hören, kämpfen Juden und Palästinenser um ein Stück Wüste. Unsere gemeinsame Menschlichkeit kann es besser machen.