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Frankreich: Gesundheitssektor mobilisiert gegen nationalen Notstand

Ein alarmierender Bericht aus Frankreich von Christine Bierre und Karel Vereycken (Solidarite et Progres). Die von Jacques Cheminade geführte Partei nimmt mit der Wahl-Allianz "La Raison du Peuple" an den französischen Parlamentswahlen teil.

Am 7. Juni haben Bürgerinnen und Bürger, medizinisches Personal und Gewerkschaften in über 50 französischen Städten (Paris, Marseille, Grenoble, Nantes, Toulouse, Montpellier, Lodève, Aurillac, Epernay, Cherbourg, Straßburg usw.) gemeinsam für eine allgemeine Lohnerhöhung, die sofortige Einstellung von medizinischem Personal und den sofortigen Stopp aller Schließungen von Gesundheitsdiensten und Notaufnahmen demonstriert und sind damit einem Aufruf des Gewerkschaftsbundes CGT und von neun Organisationen gefolgt.

In einem Kommuniqué warnt die CGT: "Der Sommer 2022 verspricht extrem schwierig zu werden, da mehr als 120 Notaufnahmen (fast 20 % der Gesamtzahl) gezwungen sind, ihre Tätigkeit einzuschränken oder zu schließen, weil es an Fachkräften mangelt." Die Gewerkschaft unterstreicht, dass "dieser Fachkräftemangel das gesamte Krankenhauspersonal betrifft:  Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger, Pfleger, Krankenhausbedienstete, Radiologietechniker, Physiotherapeuten, usw. So sind beispielsweise 60.000 Stellen für Krankenschwestern und -pfleger in ganz Frankreich unbesetzt und es werden 25 % mehr Notärzte benötigt, um eine qualitativ hochwertige Versorgung in Notfällen zu gewährleisten." Die Untätigkeit Macrons seit der COVID-Pandemie, schreibt die Gewerkschaft, "hat eine bereits sehr schlechte Situation nur noch verschlimmert." In Wirklichkeit wurden seit Macrons Amtsantritt "17.500 Betten in 5 Jahren geschlossen, und das während einer weltweiten Pandemie."

In Frankreich stagniert die Zahl der jährlich ausgebildeten Ärzte und ist in den letzten 20 Jahren aufgrund eines numerus clausus [zulässige Höchstzahl] sogar gesunken. Da sie keinen Zugang zu einem Arzt haben, eilen die Menschen bei Unwohlsein in die Notaufnahme, eine Einrichtung, die früher nur als letzter Ausweg in Frage kam. Die Zahl der dort behandelten Patienten ist von 10,1 Millionen im Jahr 1992 auf 21,2 Millionen im Jahr 2019 gestiegen.

Während früher verzweifelte Pflegekräfte im öffentlichen Sektor wegen höherer Löhne in die Privatwirtschaft wechselten, kündigen heute viele Fachkräfte einfach. Der Druck auf die Krankenhäuser "ist auf besonders schlechte Arbeitsbedingungen, Burn-out-Situationen und Depressionen zurückzuführen, wobei viele Pflegekräfte das Handtuch werfen, entweder weil sie ihre Arbeit nicht mehr ordnungsgemäß ausführen können oder weil ihre Fähigkeiten nicht anerkannt werden", so CGT-Vertreter auf einer Kundgebung in Lodève.

In Montpelier demonstrierte die Gewerkschaft vor der Präfektur und verlangte, vom Präfekten empfangen zu werden, der sich bisher geweigert hatte. "Wir brauchen nur 15 Minuten, um ihm genau zu sagen, was verlangt wird", sagte ein Gewerkschaftsvertreter. Anstatt neue Berichte zu verfassen, seien heute "konkrete und sofortige Maßnahmen mit Mitteln erforderlich, die den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen. Wir müssen die Gehälter erhöhen, Leute ausbilden und einstellen". Die CGT fordert die Schaffung von mindestens 100.000 Arbeitsplätzen für Beschäftigte im Gesundheitswesen, sowohl um den Mangel auszugleichen als auch um eine qualitativ hochwertige Versorgung und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen zu gewährleisten.

Ein Bild der zerstörten französischen Wirtschaft

Auch andere Schlüsselsektoren wie  das öffentliche Bildungswesen, das Hotel- und Gaststättengewerbe und sogar Busfahrer haben echte Schwierigkeiten, Arbeitskräfte einzustellen, vor allem wegen der niedrigen Löhne und der schwierigen Arbeitsbedingungen.

Im Hotel- und Gaststättengewerbe ist die Lage dramatisch. Nach Angaben der Gewerkschaft des Hotel- und Gaststättengewerbes ist es nicht möglich, die dringend benötigten 270 000 Arbeitskräfte für Bars, Cafés und Restaurants zu finden, und zwar sowohl in Voll- als auch in Teilzeit und in allen Berufen. Die nationale Agentur für Arbeitslosigkeit berichtet, dass in einigen Gebieten es für mehr als  70 % der angebotenen Stellen keine Bewerber gibt. Für diese Arbeitnehmer, die von mittags bis in den Abend und an den Wochenenden für Niedrigstlöhne arbeiten, hatte der Lockdown das Fass zum Überlaufen gebracht.

Auch im öffentlichen Bildungswesen ist die Lage dramatisch. Die Zahl der Bewerber für den Schuldienst ist in den letzten Jahren deutlich gesunken, und mit dem neuen Schuljahr im September 2022 werden viele Kinder in wichtigen Bereichen keine Lehrer haben. In einigen der Schulakademien, die das öffentliche Bildungswesen in Frankreich organisieren, haben Beamte ein "Job-Dating" nach dem Vorbild des "Speed-Dating" eingeführt,  um neue Lehrkräfte zu rekrutieren. Jeder mit einem Schulabschluss und einer dreijährigen Hochschulausbildung kann eingestellt werden, unabhängig von Alter und Beruf. Für sie werden in diesem Sommer Auffrischungs- und Schulungsprogramme organisiert.

Lehrkräfte fehlen vor allem in den Fächern Mathematik, Germanistik und Literatur. In Mathematik kamen auf 1.035 angebotene Stellen nur 816 qualifizierte Bewerber. Im Fach Deutsch kamen auf 215 angebotene Stellen nur 83 qualifizierte Bewerber. Und während einige versuchen, das Problem herunterzuspielen, besagt ein Bericht der Fachinstitution DARES, dass es sich um einen langfristigen Trend handelt:  68.000 Stellen werden von jetzt bis 2030 unbesetzt bleiben. Ein Bericht des Senats aus dem Jahr 2021 führt  die Situation auf die Tatsache zurück, dass der Beruf unattraktiv ist, als zunehmend schwierig und sozial undankbar gilt und schlecht bezahlt wird (unter dem europäischen Durchschnitt).  In 20 Jahren sind die Löhne um 15 bis 25 % gesunken.

Am 8. Juni  schließlich gab die Gewerkschaft der Schulbusfahrer bekannt, dass auch sie aus ähnlichen Gründen Schwierigkeiten hat, neue Mitarbeiter zu finden. Wenn keine Lösung gefunden wird, werden 20 % der Schulkinder keinen Bus haben, um zur Schule zu fahren.

 

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