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Die Aktualität von Schillers "Ästhetischer Erziehung" für die Schüler heute

Die Bundesvorsitzende der Bürgerrechtsbewegung Solidarität, hielt auf der erziehungspolitischen Tagung der BüSo am 6. Juni 1998 in Duisburg folgende Grundsatzrede.

Von Helga Zepp-LaRouche

Gestatten Sie mir, mit einer aktuellen Nachricht aus den USA zu beginnen. In amerikanischen Städten sieht man derzeit überall Aufkleber mit dem Text: "Shoot the children, before they get you!" (Erschießt die Kinder, bevor sie euch erwischen). Natürlich ist das eine polemische Überspitzung, aber wahr ist: In Städten wie Washington oder Los Angeles werden pro Tag drei Morde verübt, immer häufiger von Jugendlichen, die ohne irgendeinen Sinn aus dem fahrenden Auto heraus einfach jemanden erschießen.

Daß wir in Deutschland nicht sehr weit hinterher sind, wird durch verschiedene Berichte der Behörden deutlich und nicht zuletzt durch einen Leitartikel in Die Zeit (Nr.16/1998), in dem Frau Dönhoff eine erschreckende Anzahl von Beispielen aufzählte: Eine Fünfzehnjährige rächte sich an ihrer dreizehnjährigen Freundin mit tödlichen Messerstichen; ein Vierzehnjähriger erdrosselte und beraubte zusammen mit einem Onkel die eigene Großmutter; Jugendliche werden von Mitschülern erpreßt, eines der Opfer warf sich deswegen aus Verweiflung vor einen S-Bahnzug. Zweifellos steigt auch in Deutschland die Zahl solcher im Grunde kaum nachzuvollziehenden Gewalttaten unter jungen Leuten erschreckend an.

Deshalb möchte ich über das Thema Bildungskatastrophe in Deutschland nicht im enggefaßten Rahmen der bildungspolitischen Debatten und strukturellen Aspekte der letzten Jahrzehnte sprechen, sondern ich möchte die Frage der Bildungskatastrophe vom Standpunkt der zivilisatorischen Krise betrachten, in der sich eigentlich die ganze Welt befindet. Die Bildungsmisere äußert sich in verschiedenen Symptomen: die schon genannte Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen, der Abfall Deutschlands im internationalen Leistungsvergleich, der Mangel an Nachwuchs bei den naturwissenschaftlichen Disziplinen, die Beschwerden der Industrie und des Handwerks über die mangelnde Qualifikation der Schulabgänger, die erschreckende moralische Indifferenz vieler Jugendlicher, eine emotionale Verrohung und zugleich Verarmung, die sie ihre Identität nur noch im Rahmen einer Bande finden läßt.

Man könnte diese Phänomene weiter aufzählen, aber ich glaube, sie haben alle einen gemeinsamen Bezugspunkt: Sie sind alle lang- und mittelfristige Resultate jenes Wertewandels, der nicht nur Deutschland und Europa, sondern auch Amerika, Japan und teilweise auch die Entwicklungsländern in den letzten 30 Jahren erfaßt hat.

Die meisten Leute sind sich dieses Paradigmenwandels nicht wirklich bewußt, denn der Teufel kommt bekanntlich in kleinen Schritten. Wenn man heute einen Bundesbürger aufforderte, sich vorzustellen, wie er in den 60er Jahren gedacht hat, dann würden die meisten Leute sich nicht wiedererkennen. Hier in Deutschland ist kaum noch etwas von den Werten übrig, die für die Ära Adenauer, de Gaulle oder Kennedy charakteristisch waren. Der Wertewandel hat auf verschiedenen Ebenen stattgefunden: etwa im Bereich des Wirtschafts- und Finanzsystems, wo 30 Jahre neoliberale Entscheidungen direkt verantwortlich sind für die globale Systemkrise, die wir heute erleben.

Inzwischen hat bereits die zweite Runde der Asienkrise begonnen, die Japan bereits an den Rand einer Depression gebracht hat. Indonesien steht vor dem Staatsbankrott, die Wirtschaft liegt darnieder, Hungersnöte stehen an; in Südkorea ist der wirtschaftliche Boden herausgefallen; in Thailand ist der moderate Wohlstand, der dort in Jahrzehnten erarbeitet wurde, vollkommen zunichte gemacht; und Rußland steht inzwischen auch vor dem Staatsbankrott. Die zweite Runde der Finanzkrise hat jetzt Lateinamerika erreicht, Mexiko steht vor absolut dramatischen Einbrüchen, ebenso Brasilien; und all das wird in aller kürzester Zeit Europa und die USA erreichen.

Nach meiner These wurden all die Fehlentscheidungen im wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bereich der letzten Jahre letztlich von einer anderen Kultur getragen, dem Ergebnis eines kulturellen Wandels, der auch zur heutigen Bildungsmisere geführt hat. Die heutige weltweite Krise des Finanzsystems, gegenüber der, wie einige Experten meinen, die Depression der 30er Jahre sehr bald wie ein Witz aussehen wird, geht unserer Auffassung nach auf dieselben kulturellen Wurzeln zurück, die auch im Bereich der Schule alles aus den Fugen geraten lassen.

Der Paradigmenwandel der 60er Jahre

Angefangen hat dieser Paradigmenwandel mit einer willentlichen Entscheidung eines Teils der westlichen Finanzeliten in Kooperation mit Kreisen der damaligen Sowjetunion, die "Werte" der Gesellschaft bewußt zu ändern. Im Erziehungsbereich hatte 1963 der spätere Gründer des Club of Rome, Dr. Alexander King (damals Beauftragter der OECD in Paris) für die OECD-Länder eine Erziehungsreform vorgeschlagen, und dieser ursprüngliche Bericht war ein absolut unerhörter Angriff auf das, was in der Nachkriegszeit vom Humboldtschen Erziehungssystem noch übrig geblieben war. In Kings Studie wurde ganz im Nietzschen Sinne davon geredet, daß man den "Bildungsballast" der letzten 2500 Jahre aus dem Fenster werfen müsse. Diese von der OECD lancierte Kampagne wurde dann in Deutschland in den 70er Jahren im Zuge der "Brandt-Reformen" durchgesetzt.

Ein zweiter wesentlicher Punkt, der damals eingeführt wurde -

und man sollte nicht denken, daß es ein organisches Bedürfnis der Bevölkerung war - , war die sog. Rock-Drogen-Sex-Gegenkultur. Mit einem enormen Propaganda- und Geldaufwand wurden systematisch Rockgruppen aufgebaut, der Drogenhandel wurde mehr und mehr freigegeben, und die sog. "sexuelle Revolution" war darauf gemünzt, die Grundfesten der christlich-humanistischen Kultur zu unterminieren.

In diesem Klima fand das Phänomen der 68er Revolte statt. Es geht mir keineswegs darum - falls einige alte Linke oder ehemalige alte Linke im Publikum sitzen - , hier die reine Lehre der 68er oder irgendeiner Tendenz innerhalb dieser Bewegung zu diskutieren; ich möchte das Phänomen der 68er Generation und deren Marsch durch die Institutionen als Ganzes beschreiben. Es gibt, glaube ich, keinen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, der stärker von den Ideen der 68er berührt oder verändert worden ist, als eben der Bereich der Schule.

Aus der Frankfurter Schule kamen die geistigen Väter der 68er, Leute wie Max Horkheimer, Theodor Adorno und Herbert Marcuse (der im übrigen während des Zweiten Weltkrieges für das OSS gearbeitet hat, also die Vorläuferorganisation der CIA). Diese Leute, insbesondere Marcuse, haben die Studentenrevolte durch ihre Ideen inspiriert, etwa daß die von der modernen Industriegesellschaft erzwungenen elenden Lebensumstände zum Thema gemacht werden müßten, was man an der Ohnmacht des Einzelmenschen gegenüber den großen Organisationen, an der Geltung des Leistungsprinzips, am Eingeengtsein durch die Sachzwänge einer arbeitsteiligen Berufstätigkeit, am Verwaltetwerden durch eine anonyme Bürokratie, an der moralischen Bedürftigkeit eines bloß auf Vermehrung des Wohlstands gerichteten Erwerbslebens usf. ablesen könne.

Wenn man sich diese Thesen einmal vom heutigen Standpunkt betrachtet, ist vollkommen klar, daß es bei der 68er Revolte vor allem gegen die Werte der Aufbauphase ging, die dazu beitrugen, daß Deutschland aus einem Trümmerfeld wiederaufgebaut wurde: die Idee von Leistung, Fleiß, wirtschaftlichem Wachstum, wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt, kultureller Verbesserung, einer Erziehung, die zu hervorragenden Leistungen anspornt. Alle diese Werte wurden verteufelt, indem man sagte, daß dies alles bloß ein Versuch des Kapitalismus sei, die Leistungsgesellschaft durchzusetzen, und man sich diesen Sachzwängen irgendwie entziehen müsse.

Eines der Lieblingsthemen der 68er war die sogenannte "emanzipatorische Pädagogik", weil man wußte, daß man bei den Kindern, bei den Jugendlichen und den Schulen ansetzen müßte. Das Hauptziel war, die Kinder dem Einfluß der Eltern zu entziehen, die Kinder von jeglicher Überlieferung, allen überkommenen Normen und moralischen Vereinbarungen zu "emanzipieren". Diese Politik ist jetzt nach 30 Jahren nicht ohne Folgen geblieben.

Die Folge war ein fast vollständiger Werteverlust. Leistunganforderungen in der Schule galten als "Verwertungsinteressen des Kapitals", die fortgeschrittene Industriegesellschaft als Zwangssystem, das der wahren Natur des Menschen Gewalt antue. Die logische Folge davon war die Parole "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" Genau das geschah auch, und die Gewalttätigkeit der Jugendlichen nach ein bis zwei Generationen ist das Resultat dieser antiautoritären Erziehung.

Gleichzeitig geschah ein weiterer Wandel, nämlich die Verteufelung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts durch solche oligarchischen Institutionen wie den Club of Rome und die berühmte MIT-Studie von den "Grenzen des Wachstums", die eine wesentliches Instrument beim Aufbau der grünen Bewegung gewesen sind. Die 68er Studentenrevolte, der SDS, die Neue Linke wurden zur grünen Bewegung umgepolt, indem man völlig unwissenschaftlich die These aufstellte, bis etwa 1972 habe sich die Welt noch entwickelt, aber jetzt sei das Ende der Ressourcen absehbar, nun müsse durch Nullwachstum ein Gleichgewicht hergestellt werden. Deshalb müsse Energie gespart und die Bevölkerung reduziert werden.

Immerhin haben die Autoren der "Grenzen des Wachstums", Meadows und Forrester, hinterher zugegeben, daß ihre Computerstudie so programmiert war, daß am Ende das gewünschte Ergebnis dabei herauskommen würde. Ihr Hauptfehler sei gewesen, von vornherein die Idee herauszulassen, daß Ressourcen durch wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt bestimmt werden. Damit wurde eine völlig künstliche Debatte erzeugt.

Die Werte der grünen Bewegung hielten Einzug in die Lehrbücher und den Schulunterricht. Gleichzeitig gab es in den 70er Jahren verschiedene humanistische oder nicht so humanistische Sponsoren, die Ökospiele in den Schulen verteilen ließen (Shell war einer davon). Resultat war die Null-Bock-Generation der 80er Jahre. In einer Welt, die angeblich ohnehin begrenzt ist, wo alles schon gewußt wird, wo nichts Neues mehr zu entdecken ist, da ist natürlich auch die Motivation für die Jugendlichen weg, etwas zu lernen oder zu studieren oder gar etwas Geniales zu tun.

Die nächstfolgende Generation ist die heutige Techno-Generation, die sich bei der Love-Parade in Berlin mit unglaublicher Lautstärke beschallen läßt. Diese Jugendlichen werden wahrscheinlich mit 30 Jahren enorme Hörschwierigkeiten haben oder sogar taub sein. Die Zunahme der Gewaltvideos ist atemberaubend, und überhaupt dominiert die virtuelle Realität. Die Frage, wo hört das Videospiel auf und wo fängt die Realität an, wird immer mehr verschoben.

Ich habe gerade eine Rede von Dr. Annette Schavan, der Kultusministerin in Baden-Württemberg, gelesen, die ein paar ganz interessante Ideen hat und zur alten Gymnasialoberstufe zurückkehren will. Sie hat in einer Rede am 13. März dieses Jahres - am sog. Tag der Ethik an den Fachhochschulen Baden-Württembergs - einen Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Georg Picht aus den 60er Jahren zitiert. Heidegger habe behauptet, der Begriff Bildung sei als Bezeichnung für das Wesentliche der Erziehungspraxis ungeeignet.

Das hat mein Interesse erregt, denn das Problem heute ist doch, daß Kinder und Jugendliche immer mehr zum Opfer eines schleichenden Heideggerschen Existentialismus werden. Die wenigsten Kinder in der Schule werden wissen, wer Heidegger war, und das ist vielleicht auch gut so. Aber nach 30 Jahren Paradigmenwandel, wenn die Jugendlichen von allen Bezügen zur Menschheitsgeschichte abgeschnitten sind, sind es heute diese Techno-Freaks oder die Inlineskater, die da geistlos durch die Landschaft sausen, die eigentlich das Heideggersche "Geworfensein" in die Geschichte repräsentieren. Sie sehen sich nicht mehr als Teil der endlosen Kette der Menschheitsgeschichte, sondern als Leute, die im Sinne Heideggers "von nichts zu nichts" gehen.

Wenn man Schüler heute fragte, was für ihn die Hauptideen der Geschichte sind oder was sein Leben für die Generationen vor ihm bedeutet, was ist der Sinn seines Lebens ist, so glaube ich, daß darauf die meisten Kinder keine wirkliche Antwort geben könnten, weil heute in den Axiomen, die dem Lehrgebäude und der Bildungspolitik zugrunde liegen, weder die Idee der Vervollkommnung des Menschengeschlechts noch die Vervollkommnung des Individuums eine Rolle spielen. Heute zählt nur, seine Bedürfnisse auszuleben, sich selbst zu verwirklichen, Spaß zu haben im Hier und Jetzt - also ganz existentialistische Anliegen.

Rückblickend kann man sagen, daß mit dem 68er-Phänomen und dann vor allen Dingen einschneidend mit dem Beginn der Ökologiebewegung der Wendepunkt in diesem Prozeß anzusiedeln ist. Aber auch die folgenden Debatten in den 80er Jahren, die sog. Postmoderne, die das Ende der Aufklärung bedeuten soll, haben zum Ende eines pädagogischen Fortschrittsoptimismus beigetragen.

Das Prinzip der Menschheitsgeschichte

Verlassen wir jetzt dieses Panorama und wenden uns den Ideen zu, die Lyndon LaRouche als Wirtschaftswissenschaftler vielfältig dargestellt hat. Seine Hauptaussage ist, die Geschichte der letzten hunderttausend Jahre beweise, daß die fortgesetzte Existenz der Menschheit von der Entdeckung physikalischer Prinzipien des Universums abhängt und daß die Fähigkeit, solche Entdeckungen hervorzubringen, den Menschen von den Affen und allen anderen Tieren grundsätzlich unterscheidet. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt in den kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Diese kognitiven Fähigkeiten haben nichts mit Lernen zu tun im Sinne, wie Tiere lernen, zu apportieren oder selbst Herrchen und Frauchen zu manipulieren; kognitive Fähigkeiten sind etwas anderes. Die Gesamtheit aller archäologischen und historischen Funde und Dokumente beweisen, daß die menschliche Existenz von der fortschreitenden Herrschaft des Menschen über die Natur abhängt, die sich unter anderem im Anstieg der demographischen Kurve ausdrückt: im Anstieg der Bevölkerung pro Kopf und pro Kilometer auf der Erdoberfläche. Der Mensch ist die einzige Gattung, die einen willentlichen Anstieg der Bevölkerungsdichte, der Lebenserwartung und der Lebensqualität erzeugen kann. Das kann kein Tier für sich in Anspruch nehmen; das netteste Pferd und der liebste Hund können nicht sagen, wir wollen jetzt Lebensbedingungen schaffen, daß unsere Gattung sich vermehrt, daß wir älter werden, daß wir bessere Nahrung und bessere Wohnungen haben.

Das Paradox besteht jetzt darin, daß dieser langfristige Fortschritt zwar das Charakteristikum unserer Gattung über Hunderte von Generationen ist, es aber trotzdem keine Garantie dafür gibt, daß jeder theoretische Fortschritt tatsächlich zu einem entsprechenden höheren Lebensniveau führt. Ob eine Entdeckung, selbst eine adäquate Entdeckung, einen Fortschritt oder einen Rückschritt bedeutet, hängt von kulturellen Faktoren ab, die genauso wichtig sind wie die Entdeckung eines höheren physikalischen Prinzips als solche. Die kulturellen Faktoren bestimmen, ob wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt in positiver Weise benutzt wird. Fortschritt ist immer möglich, aber er findet nicht notwendigerweise in der Form statt, wie er sich rational aus der naturwissenschaftlichen Perspektive ergibt, und deshalb kommt es trotz weiterer Entdeckungen immer wieder zu Stagnation oder, schlimmer noch, zu demographischen und physischen Rückschritten und sogar Zusammenbrüchen ganzer Zivilisationen.

In der gesamten Vorgeschichte und überlieferten Geschichte der Menschheit gibt es nur wenige Strömungen in der kulturellen Entwicklung, die später nicht als gescheiterte Kulturen wieder verschwunden wären. Die Weltgeschichte kennt viele Kulturen, die untergegangen sind, von denen wir außer ein paar Artefakten gar nichts mehr wissen, weil sie gescheitert sind, was praktisch sämtliche oligarchischen Formen der Gesellschaft betraf. Das antike Mesopotamien ist untergegangen, ebenso das Römische Reich, das Byzantische Reich oder die Azteken.

Der Grund für ihr Scheitern lag immer darin, daß ihnen die moralische Überlebensfähigkeit fehlte, und ohne diese moralische Überlebensfähigkeit kam es zu Stagnation oder Rückschritt oder gar Kollaps. Alle diese verschwundenen Kulturen oder Zivilisationen hatten ein charakteristisches Merkmal, daß nämlich immer nur etwa 5% der oligarchischen Oberschicht an dieser Kultur teilhatten, wie schlecht sie auch immer gewesen ist, während 95% in einem Zustand des Analphabetismus, der Bildungslosigkeit, der Drogensucht usw. lebte und damit an der Kultur gar nicht teilnahm.

Die Idee der universellen Bildung entstand erst mit der Renaissance im 15. Jahrhundert und dem Entstehen des ersten Nationalstaates, der die imperialen Regierungsformen ablöste und eine dem Gemeinwohl verpflichtete Regierung an ihre Stelle setzte. Diese Idee konnte sich erst durchsetzen, nachdem durch das Wirken von Lehrorden wie den Brüdern des Gemeinsamen Lebens oder später der Oratorianer in Frankreich immer größere Teile der Bevölkerung zur gebildeten Schicht zählten und eine wachsende Rolle im Staat spielten.

Man kann sagen, daß die Idee der universellen Bildung erst mit Wilhelm von Humboldt während der deutschen Klassik für alle politisch durchgesetzt wurde - wenn auch wegen der politischen Umstände in Preußen damals nicht vollkommen, aber zumindest zum ersten Mal als Idee. Angeregt von Friedrich Schiller lief Wilhelm von Humboldts Bildungskonzept darauf hinaus, durch Erziehung den Charakter zu bilden; nur wer einen schönen Charakter hat, wird auch Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl empfinden und nicht nur sich selbst im Mittelpunkt sehen. Nur ein solcher Mensch wird ein Staatsbürger sein, und eine Gesellschaft wird nur funktionieren, wenn die Mehrheit der Bürger Staatsbürger sind, die gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Humboldt hatte eine ganz klare Vorstellung davon, daß bestimmte Wissensgebiete besser als andere geeignet sind, diese Schönheit des Charakters zu befördern. Dazu gehörte zuallererst die Beherrschung der eigenen Hochsprache, die sich am besten an den schönsten Beispielen der eigenen Dichtung, Dramen, Tragödien und Lyrik studieren läßt. Nur wenn der Geist sich angewöhnt, in Metaphern zu denken, wie sie im großen historischen Drama oder im lyrischen Gedicht vorkommen, trainiert man die Fähigkeiten, die zur Schöpfung neuen Wissens notwendig sind.

Dann, sagte Humboldt, brauche man dringend eine noch entwickeltere Fremdsprache, z.B. das Griechisch oder Sanskrit, um durch die entwickeltere Grammatik über seine eigene Sprache selbstbewußt zu werden. Und man müsse unbedingt die Universalgeschichte kennen, weil, wie Schiller sagte, nur derjenige, der all die Anstrengungen der vielen vorausgegangenen Generationen kennt, sich anstrengen wird, diese Gaben bereichert an die Zukunft weiterzugeben. Dazu gehört natürlich die Musik, weil es gibt keinen Bereich gibt, der die Gefühle so in direkter Weise anspricht wie die klassische Musik, dann Geographie und die Naturwissenschaften.

Ging es Humboldt um Lernen im Sinne von multiple choice? Nein, das Prinzip der klassischen humanistischen Bildung, so wie Humboldt es verstanden hat, war das Wissen einer Reihe von Entdeckungen, wie sie von einer Generation zur nächsten fortschreitet. Es geht nicht darum, daß der Schüler oder Student sein Lehrbuch auswendig lernt, als wären es Lehrsätze eines religiösen Dogmas. Er muß vielmehr die ursprüngliche kognitive Entdeckung eines Prinzips in gleicher Weise wie der Entdecker in der Naturwissenschaft oder in der Kunst im eigenen Geist nachvollziehen.

Dieses Nachentdecken und Nachempfinden korrespondiert zu dem souveränen Vermögen des Individuums, das seine Identität ausmacht. Die Vermittlung der Kultur durch die klassisch-humanistische Erziehung ist im übrigen das aktive Prinzip in der geschichtlichen Methode, und das gleiche gilt für Kunst und Wissenschaft. Diese Qualität der Erziehung den Kindern vorzuenthalten, d.h. sie nicht wirklich einzubetten in den langen Prozeß der Wissensschöpfung und Wissensweitergabe, ist eine Verletzung der unveräußerlichen Menschenrechte, denn es ist das Ur-Menschenrecht, diese Fähigkeiten entwickeln zu können. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Im Gegensatz zu den Annahmen der Materialisten und Empiristen werden die neuen physikalischen Prinzipien niemals aus der sinnlichen Wahrnehmung deduziert, sondern sie geschehen immer als kognitive Lösungen zu ontologischen Paradoxa - Ideen im Sinne von Platons Dialogen. Sie sind immer verifizierbar, sie sind immer experimentell demonstrierbar. In der klassischen Kunst erscheint dasselbe Prinzip der Lösung von Paradoxa als Metapher, und deshalb sind auch Metaphern Ideen.

Bei der Entdeckung physikalischer Prinzipien wie auch bei der Entdeckung klassischer Metaphern ist der kognitive Prozeß durch eine bestimmte Qualität von Leidenschaft geleitet. Die emotionale Energie, die notwendige Intensität und Dauer der kognitiven Konzentration ist ein absolut entscheidender Bestandteil dieses Lernens im richtigen Sinn. Die Leidenschaft, die der Schüler oder der Mensch haben muß, um ein gültiges Prinzip der Wissenschaft zu entdecken oder ein wirkliches Kunstwerk zu schaffen, nennt man Agape im Griechischen bei Platon, oder Paulus schreibt darüber im ersten Brief an die Korinther: "Und wenn ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis,... und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts". Es geht um eine Leidenschaft für Gerechtigkeit und Wahrheit, die auch die Basis für die sozialen Beziehungen ist. Agape in der Kunst, bei den Dichtungen, Tragödien, in der Musik, in der Bildhauerei, bei der Malerei - alle enthalten eben diese Ideen. Diese Begriffe von wissenschaftlichen und künstlerischen Ideen stellen die Grundlage der Epistemologie dar, sie definieren die Beziehungen zwischen der menschlichen Existenz und dem physikalischen Universum.

Die Entdeckung einer Idee durch ein Individuum und die Anwendung dieser Idee in der Gesellschaft ist die charakteristische Aktivität, welche die spezifische Beziehung des Menschen zum ganzen Universum darstellt. Dieser Prozeß von Ideen ist geordnet. Es gibt einen Fortschritt, einen höheren Wirkungsgrad dieser Ideen, der dann die Wirksamkeit der Menschen in der Natur erhöht. Was in der Schöpfungsgeschichte ausgedrückt ist, daß der Auftrag des Menschen ist, die Welt zu bevölkern, über die Vögel und Fische zu herrschen und sich die Erde untertan zu machen, das ist in der Tat das Gesetz des Universums.

Schillers Konzept der schönen Seele

Woher kommt diese Qualität des Agape? Ich will dies von einem anderen Standpunkt her betrachten, nämlich Schillers Reaktion auf die Französische Revolution. Schiller hatte wie viele patriotische Kräfte in Europa damals die Hoffnung, daß der amerikanische Unabhängigkeitskrieg dazu führen würde, das oligarchische Herrschaftssystem in Europa ebenfalls zu überwinden, und es möglich sein würde, ähnliche republikanische Revolutionen wie in Amerika in ganz Europa durchzuführen. Das war zu Beginn der Französischen Revolution eine durchaus berechtigte Hoffnung, aber als dann der Jakobinerterror einsetzte, war Schiller sehr enttäuscht und schrieb in den berühmten Ästhetischen Briefen: "Ein großer Augenblick hat ein kleines Geschlecht gefunden". Die moralische Möglichkeit, den historischen Augenblick zu ergreifen, wurde verpaßt.

Vor allem im fünften der Ästhetischen Briefe verweist Schiller auf die Rolle der klassischen Kunst als notwendiges Mittel der moralischen Erziehung. Woher soll die Veränderung kommen, wenn die Regierung korrupt ist und die Massen erschlafft und verroht sind? Ich habe diesen Brief oft gelesen und denke, daß er auf heute absolut zutrifft.

Schiller wandte sich in diesen Briefen gegen die damals dominierende Ideologie der Aufklärung, gegen die Ideen von Voltaire, der in "Werken" wie Candide Leibniz verunglimpfte, oder in La Pucelle Johanna von Orleans in den Dreck zog. Schiller setzte sich ganz bewußt mit dem Ideal einer zivilisierten Menschlichkeit gegen die Ideen der Aufklärung zu Wehr. Ab dem elften ästhetischen Brief beschreibt er, wie durch die Entwicklung des Stofftriebs, des Formtriebs und schließlich des Spieltriebs die Bildung der Persönlichkeit zu einem harmonischen Ganzen gestaltet werden kann. Was Schiller mit Stofftrieb meint, ist einfach die Fähigkeit des Menschen, unendlich neue Dinge aufzunehmen, und er warnt davor, zu schnell das Neue in ein theoretisches Korsett zu zwängen. Er sagt, in der Geschichte sei mindestens genauso viel Unheil entstanden, weil zu schnell versucht wurde, die Entwicklung in Wissensgebäuden einzufangen oder einzudämmen, wie durch das Gegenteil. Deshalb müsse der Stofftrieb, d.h. die Fähigkeiten des Menschen, die ganze Welt aufzunehmen, trainiert werden, aber dann müsse die innere Kohärenz, die Ideengebung, die begriffliche Erfassung, durch den Formtrieb gefördert werden. Schließlich sei der Spieltrieb, der in der Mitte zwischen beiden angesiedelt ist, das, wo der Mensch ganz Mensch sei, dort entsteht das Neue, die neue kreative Hypothese.

Für die Bildung der Persönlichkeit zu einem harmonischen Ganzen hat Schiller sein ganzes Leben gekämpft, darum hat er gedichtet, darum hat er geschrieben. Sein höchstes Ideal war die schöne Seele, der Mensch, der seine Emotionen soweit erzogen hat, daß er mit Leidenschaft das tut, was die Vernunft gebietet. Er kann blindlings seinen Emotionen trauen, sie werden niemals etwas anderes tun als das, was die Notwendigkeit fordert, weil er eben die Gefühle auf die höchste Ebene der Vernunft erzogen hat.

Das ist Freiheit in der Notwendigkeit, und die einzige Art Mensch, auf die das zutrifft, ist das Genie, weil nur das Genie auf gesetzmäßige Weise die Gesetze erweitert. Das könne man lernen, sagt Schiller, und Humboldt meinte, die Kunst sei deshalb notwendig, weil die Wissenschaften oder die Künste es dem Schüler ermöglichen, die kognitive Konzentration in einer solchen Dauer und Energie aufrechtzuerhalten, daß eine Entdeckung entsteht.

Diese Idee kommt auch bei Nikolaus von Kues vor, der bereits im 15. Jahrhundert forderte, daß jedes Individuum die gesamte Geschichte der Menschheit in ihren wesentlichen Punkten rekapitulieren müsse, denn nur daraus könne das Wissen entstehen, den notwendigen nächsten Schritt zu bestimmen. Wilhelm von Humboldt sagte das gleiche: Jeder Schüler, jeder Student müsse die wichtigsten wissenschaftlichen und künstlerischen Prinzipien der Menschheitsgeschichte bis heute nachvollziehen. Durch diese wiederholte Betrachtung werde der kognitive Bereich zu einem sehr hohen Grad trainiert.

Humboldts Bildungsideal

Wilhelm von Humboldt stimmte mit Schiller damals in den 80er und 90er Jahre des 18. Jahrhunderts völlig überein, was er so ausdrückte: "Das Menschengeschlecht steht jetzt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung des Individuums höher emporschwingen kann. Und daher sind alle Einrichtungen, die diese Ausbildung hindern, und die den Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jetzt schädlicher als jemals." - Sind die Leute, die in video-virtueller Realität leben und sich in Rockkonzerten oder anderen Massenphänomenen ergehen, nicht in Massen zusammengedrängt?

Schiller stellte die Frage der Erziehung durch klassische Kunst deswegen so sehr in den Mittelpunkt, weil er ein sehr hohes Ideal des Künstlers hatte. Er verlangte vom Künstler, daß er sich zum idealischen Menschen veredelt haben müsse, ehe er es wagen dürfe, sich vor das Publikum zu stellen und das Publikum zu rühren. Er muß über einen Gegenstand sprechen, der universell und wahr ist. Wenn das gleiche im Schulunterricht oder im Leben generell passiert, dann werden die kreativen Fähigkeiten desjenigen, der sich damit beschäftigt, erzogen. So erzieht die Kunst die Emotionen, welche die Wahl der Gedanken bestimmen.

Humboldt definiert das Erziehungsziel auch in der folgenden Weise: "Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welcher die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveräußerliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüt ursprünglich gleichgestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental chimärisch oder verschroben werden soll".

Und schließlich sagt Humboldt: "Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter und anständiger seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufes nachher so leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen."

Das heißt, wenn der Mensch durch die Bildung "die höchste proportionierlichste Ausbildung seiner Kräfte zu einem harmonischen Ganzen" in der Weise durch den Unterricht vermittelt bekommt, dann wird ihm dies nicht zum Dogma, sondern zu einer Eigenschaft, einer Wesensart, die einen prägt, gleich welchen Fachberuf oder welche spezifische Ausbildung man weiter anstrebt.

Kinder als Versuchskaninchen?

Genau deshalb hat unser Bundespräsident Herzog nicht recht, wenn er meint, das Humboldtsche Erziehungssystem sei überholt. Das sagte Herzog in einer Rede vom 5. Nov. 1997, in der er im übrigen die Bildungspolitik zum "Megathema" des Wahlkampfs erklärte. Außerdem machte er verschiedene Vorschläge, von denen einige gar nicht einmal schlecht sind: etwa den, daß alle Kinder vom ersten Schuljahr eine Fremdsprache lernen sollten, weil Kinder bekanntlich in jungen Jahren Sprachen besonders leicht lernen. Auch bin ich uneingeschränkt dafür, ganze Klassen zwischen den verschiedenen Ländern ein halbes Jahr lang auszutauschen.

Aber wenn man sonst diese Rede des Bundespräsidenten untersucht, findet sich darin leider nicht sehr viel Inhaltliches. Am Schluß meint er dann, keiner von uns wisse, welches Konzept zum Erfolg führen werde. Man sollte möglichst viele Experimente wagen, über deren Qualität dann die Praxis entscheiden müsse. Würden Sie Ihr Kind Leuten als Versuchskaninchen überlassen, die keine Ahnung haben, was sie da tun? Ich meine, daß wir in den letzten 30 Jahren genügend negative Beispiele dafür haben.

Und schließlich sagt Herzog: Unser Bildungssystem war einst Modell für die ganze Welt, aber es muß weiterentwickelt werden, das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten.

Nun möchte ich Prof. Dr. Rolf Arnold zitieren, der in Heft 1 der Reihe Pädagogische Materialien der Universität Kaiserslautern Herzog meiner Meinung nach korrekterweise beschuldigt, daß er die Regierung aus der Mitverantwortung für die Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte herausnimmt, also so tut, als wäre die Bildungsmisere vom Himmel gefallen. Das, was Herzog sagt, so Professor Arnold, "trübt den Blick für die eigentlichen Ursachen der Misere und präsentiert Allgemeinplätze wie z.B. ,das Bessere ist der Feind des Guten' und Stammtischparolen".

Genau das ist das Problem. Man könnte meinen, daß das alles eine recht ausweglose Lage ergibt. Aber ich kann Ihnen versichern, daß es in nicht allzu weiter Zukunft einige massive Schockeffekte in unserer Gesellschaft geben wird. Die nächsten Stoßwellen des globalen Finanzkrachs sind absolut gewiß, und der einzige Hoffnungsschimmer ist, daß auch die preußischen Reformer - vom Stein, von Humboldt, Scharnhorst, Gneisenau - eigentlich erst nach der Schlacht von Jena und Auerstedt 1806, die durch die Unterlegenheit des preußischen Militärs verloren ging, auf Bereitschaft zu Reformen stießen. Genauso, fürchte ich, wird es in Deutschland auch kommen. Erst wenn die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert sind, wird es möglich sein, zu Ideen Wilhelm von Humboldts und Schillers zurückzukehren. Das wird aber nur möglich sein, wenn wir uns vorher darauf vorbereiten. Die Katastrophe wird kommen, aber ob die Krise genutzt wird, um Reformen durchzusetzen, hängt davon ab, ob wir alle positiven Kräfte im Staat vorher mobilisieren können. Wir müssen uns jetzt Gedanken machen, wie Deutschland, Europa oder überhaupt die Welt im 21. Jahrhundert aussehen sollen.

Wollen wir, daß Technofreaks und deren Werteskala das nächste Jahrhundert bestimmen, daß Jugendbanden das Sagen haben, die mit brutaler Gewalt der Oma die kleinen Ersparnisse rauben, um sich Drogen zu kaufen? Ist das die Zukunft, die wir wollen? Oder wollen wir eine Vision entwickeln, in der Deutschland als Nation eine Aufgabe hat, in dem Sinne wie de Gaulle über das Grand Design Frankreichs gesprochen hat, als er sagte, die Franzosen seien doch keine Kühe, die nur auf der Weide stehen und Gras fressen? Jede Nation hat eine Aufgabe in der Welt, und de Gaulles Idee war, daß Frankreich bei der Überwindung der Unterentwicklung in der Dritten Welt mithelfen sollte.

Genauso denke ich, eine Vision für Deutschland müsse bedeuten, daß wir eine aktive Rolle bei der Überwindung der Weltwirtschafts- und Finanzkrise und beim weltweiten Wiederaufbau spielen müssen. Das, was uns einmal ausgezeichnet hat, deutsche Technologie made in Germany, kann in einer gerechteren neuen Weltordnung eine positive Rolle spielen, und der konkrete Rahmen davon muß und kann nur der Ausbau der Eurasischen Landbrücke als Kernstück eines solchen Wiederaufbaus der Weltwirtschaft sein.

Wenn wir eine solche wirtschaftspolitische Orientierung haben, die wieder erfordert, daß wir Naturwissenschaftler und Ingenieure ausbilden, daß wir produktive Vollbeschäftigung und eine Wirtschaftspolitik haben, mit der auch eine teure Bildung finanziert werden kann, dann ist die Bildung nämlich gar nicht teuer, sondern sie ist die beste Investition in die Wirtschaftskraft, weil letztlich allein die kreativen Fähigkeiten des Individuums die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums ausmachen. Aber das bedeutet natürlich, daß die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen wieder daran orientiert ist, daß die Kinder ihren Platz in der Geschichte finden, daß sie überhaupt wissen, was Geschichte ist, daß sie wieder lernen, was es bedeutet, im Sinne kreativer Individuen, großer Entdecker und Künstler wissenschaftlich zu denken.

Stellen Sie sich Raffaels Gemälde der Schule von Athen vor, auf dem Platon und andere große Denker abgebildet sind, und stellen Sie sich einen ähnlichen Wandteppich vor, auf dem alle großen Entdecker, Wissenschaftler, Künstler, Komponisten, Musiker, Dichter der Geschichte vorkommen; der Schüler, der sie alle im Unterricht kennengelernt hat, sagt dann: "Ah, auf diesem Wandteppich ist mein Freund Archimedes zu sehen, er hat das folgende entdeckt. Hier ist mein Freund Kepler, hier ist mein Freund Beethoven..." Die Ideen dieser großen Denker sind ihm vielleicht vertrauter als das Geschrei seiner kleinen Schwester, weil er sich inhaltlich mehr damit auseinandergesetzt hat. Wenn so ein Schüler zu sagen lernt, "Jawohl ich bin ein Teil dieser Geschichte, ich bin ein Teil der Menschheit, dies ist mein Platz", dann haben wir gewonnen.

Dann brauchen wir auch keinen Generationenvertrag mehr, der die jüngere Generation davon abhalten soll, die Alten aus Kostengründen zur aktiven Sterbehilfe zu überreden, dann haben wir eine Gesellschaft, wie Schiller in seiner Rede zur Universalgeschichte sagt, in der "in uns ein edles Verlangen entglüht, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet, etwas dazusteuern können Sie alle, jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."

Die Frage ist, welche Zukunft wir gestalten. Bildungspolitik ist mehr als eine Frage der Ausbildung von Fachwissen, von kleinen Fähigkeiten, sondern es geht darum, wie wir als welthistorische Individuen in die Geschichte eingreifen.