von Klaus Fimmen
Wir sind Zeuge eines epochalen Wandels. Die Dominanz des Westens ist gebrochen. Nichts kann den Aufstieg des globalen Südens und der BRICS+-Staaten mehr aufhalten, außer ein Nuklearkrieg, der dann wirklich das Ende der Geschichte bedeuten würde.
In Josef Haydns Die Schöpfung gibt es ziemlich am Anfang eine Passage, die gut zur gegenwärtigen Situation passt. Dort singt der Chor: „Verzweiflung, Wut und Schrecken begleiten ihren Sturz“ (den Sturz der Höllengeister) und dann folgt: „Und eine neue Welt entspringt auf Gottes Wort“, anders ausgedrückt – das humanistische Naturrecht setzt sich durch – und auf heute übertragen: das von der unipolaren Welt erzeugte Chaos weicht einer neuen Ordnung, die die Errichtung einer neuen, gerechten Weltwirtschaftsordnung ins Zentrum rückt.
Es sind mehrere Gründe, die immer mehr Staaten zur Abkehr vom Dollar-dominierten Währungssystem bewegen.
1. Da wäre zunächst der überproportionale Einfluss der nördlichen Industriestaaten auf die alten Bretton-Woods-Institutionen wie IWF und Weltbank. Als das Nachkriegswährungssystem 1944 in dem kleinen Ort Bretton Woods in den USA gegründet wurde, repräsentierten die westlichen Industriestaaten 80% der weltweiten Wirtschaftsleistung, und davon die USA den Löwenanteil - während alle anderen Staaten nur 20% beitrugen. Der Anteil der Industriestaaten ist heute auf 30% gesunken und der Rest ist auf 70% gewachsen. Deshalb pochen die Staaten des Entwicklungssektors seit langem auf ein größeres Mitspracherecht.
2. Als Richard Nixon 1971 – unter anderem infolge der Inflationierung durch den Vietnamkrieg - den Dollar von der Goldreserve abkoppelte und die festen Wechselkurse aufkündigte, läutete das den Untergang des Bretton-Woods-Systems ein. Der US-Ökonom und Staatsmann Lyndon LaRouche prognostizierte bereits damals, daß das internationale Finanzsystem kollabieren müsse, wenn diese Maßnahmen nicht korrigiert würden, und so die Gefahr eines neuen Faschismus und eines Weltkrieges entstünde. Heute sehen wir uns genau mit diesen Gefahren konfrontiert.
3. Die Deregulierung der Finanzmärkte seit der 2. Hälfte der siebziger Jahre führte dazu, daß dem produzierenden Sektor zunehmend Kapital entzogen und in risikoreiche Finanzspekulationen gesteckt wurden. Die Folge war ein aufgeblähter Finanzmarkt bei gleichzeitig stagnierender oder schrumpfender realer Wertschöpfung. Lyndon LaRouche hat das 1995 pädagogisch in einer Dreifachfunktion dargestellt:
Die exponentiell wachsenden Finanztitel, insbesondere die sogenannten Finanzderivate, erforderten eine steigende Geldmenge. Als in der Finanzkrise 2007/2008 die Bewertung der Finanztitel radikal einbrach, haben die Zentralbanken FED, EZB und andere einfach die Notenpresse angeworfen. Das wiederum führte zu der paradoxen Situation von Inflation bei den Finanztiteln bei gleichzeitiger Deflation in der Realwirtschaft. Spätestens unter den Bedingungen von Corona ist die galoppierende Inflation in der Realwirtschaft angekommen.
Noch einige Zahlen: Die amerikanische Staatsverschuldung liegt inzwischen bei 33 Billionen Dollar, die der ganzen Welt bei ca. 310 Billionen, aber das wirkliche Problem ist die Blase der Finanzderivate, die auf etwa 2 Billiarden Dollar geschätzt wird.
4. Seit den siebziger Jahren haben die USA ihre finanziellen Probleme vom Ausland „lösen“ lassen. So 1973 bei der künstlich herbeigeführten „Ölkrise“, die zu einer Vervierfachung des Ölpreises und der entsprechenden erhöhten internationalen Nachfrage nach Dollars führte und so den Kurs des Dollars festigte. Das machte den Entwicklungssektor zum Nettokapitalexporteur an die Wall Street und die Londoner City. Die Liberalisierung der Finanzmärkte förderte Spekulationsblasen, deren Aufrechterhaltung immer neue Opfer zur Plünderung brauchen. Nach der Auflösung der Sowjetunion waren dann Rußland und die ehemaligen RGW-Länder an der Reihe. Jetzt soll die Kriegswirtschaft hierzulande dem gleichen Zweck dienen.
Das ist das eigentliche Wesen des Faschismus: die Plünderung der Löhne und der Realwirtschaft, um den fiktiven Wert der Finanzblasen aufrechtzuerhalten. Zensur, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Kriminalisierung der Opposition usw. sind das Beiwerk, um die Interessen der Finanzoligarchie zu schützen.
Im Gegensatz zu den Dreißiger Jahren gibt es heute eine starke und wachsende Alternative: Chinas Programm der Neuen Seidenstraße / Belt & Road Initiative(BRI) hat den Ländern der südlichen Hemisphäre mit Investitionen in die grundlegende Infrastruktur das erste Mal seit Jahrzehnten den Ausweg aus der Armut gewiesen. Rußland und die anderen BRICS-Staaten, seit Anfang dieses Jahres BRICS+, lassen sich nicht mehr vom Westen herumkommandieren. Ihren Fahrplan könnte man etwa so zusammenfassen:
1. Multipolare Welt - die Länder der südlichen Hemisphäre pochen auf ihr Mitspracherecht;
2. Zusammenarbeit im Sinne der 5 Prinzipien der friedlichen Koexistenz (Gegenseitige Anerkennung der Souveränität und territorialen Integrität, gegenseitige Nichteinmischung, Gleichberechtigung und beiderseitiger Nutzen sowie friedliches Zusammenleben)
3. Neues Währungssystem, das die Ungerechtigkeiten des alten Systems überwindet und weltweit Aufbau und Entwicklung ermöglicht;
4. Überwindung von Armut und Krankheiten durch Infrastrukturprojekte und Technologietransfer.
Heute sehen die Mehrheit der Staaten den IWF und die Weltbank als unreformierbar an, da sie kein einziges Land aus der Armut befreit haben und der Westen innerhalb dieser Organisationen weiterhin auf seinen Vorrechten besteht. Der Neuen Entwicklungsbank der BRICS, der Asiatischen Infrastruktur Investment Bank und dem Seidenstraßen-Fonds Chinas und ähnlichen Institutionen kommen deshalb immer größere Bedeutung zu.
Parallel arbeiten die BRICS+-Staaten daran, ihren Handel untereinander zunehmend in eigener Währung abzuwickeln. Verhandlungen über ein neues Währungssystem und alternative Zahlungsabwicklungssysteme (z.B. zu SWIFT) finden statt und könnten zu erste Beschlüssen beim BRICS-Gipfeltreffen in Kasan im Oktober 2024 führen.
Auf Seiten der Eurasischen Wirtschaftsunion ist der russische Ökonom Sergej Glasjew an diesen Verhandlungen führend beteiligt. Glasjew hatte Lyndon LaRouche 2001 in den Finanzausschuss der Duma eingeladen, bei dem es damals schon um die Frage alternativer Finanzstrukturen ging. Grundzüge dieser Überlegungen tauchen heute wieder auf: Eine neue Leitwährung als Verrechnungseinheit, die nicht nur eine nationale Währung (wie bisher den Dollar) zur Grundlage hat, sondern einen Korb von Währungen der sich beteiligenden Länder sowie Rohstoffe wie Edelmetalle, Getreide oder Gas/Erdöl.
Der Prozess „raus aus dem Dollar“ wird heute durch die Beschlagnahme von fremden Geldern (wie jüngst die 300 Mrd. Auslandsguthaben Russlands in den USA und Europa) und Tausende illegaler Sanktionen nur noch beschleunigt. Die USA und die folgsamen Europäer sind dabei, ihren wirtschaftlichen Niedergang durch eigene Dummheit und Selbstüberschätzung zu beschleunigen.
Die Ironie der Lage ist, daß sowohl China als auch Rúßland die Prinzipien anwenden, die vor 200 Jahren als das Amerikanische System der politischen Ökonomie bekannt wurden – als Gegenentwurf zum britischen Imperialismus. Es wurde trefflich vom deutschen Nationalökonomen Friedrich List beschrieben, der ein prominenter Vertreter dieser Richtung war. Während das britische System bedeutete „billig einkaufen, teuer verkaufen“, prägte List das Wort von der Pflanzung der produktiven Kräfte als Ziel der Ökonomie. Das Hauptaugenmerk liegt also auf der Verbesserung des Produktionsprozesses mit Hilfe von Bildung, Wissenschaft und effektiverer Infrastruktur.
Ein Blick in die Geschichte
Es ist offensichtlich, daß unter den geschilderten Umständen das jetzige westliche Währungssystem nicht überleben kann. Der Zusammenbruch des Finanzkasinos treibt dessen Profiteure zur geopolitischen Konfrontation mit Russland und China. Deshalb ist die Überwindung der Kriegsgefahr unmittelbar mit der Lösung der wirtschaftlichen Probleme verknüpft.
Die Frage ist: Wie kann der Übergang zu einem besseren System erfolgen, ohne daß mit dem Platzen der Finanzblasen die gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten zum Erliegen kommen und allgemeines Chaos ausbricht?
Es lohnt ein Blick in die Geschichte. Als der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt 1933 sein Amt antrat und das Land noch immer mit den Nachwirkungen des Schwarzen Freitags von 1929 zu kämpfen hatte, ließ er eine Reihe Finanzreformen vom Kongress verabschieden, darunter das Trennbankengesetz (Glass Steagall Law). Dieses hat die Investmentbanken mit ihren risikoreicheren Aktivitäten hermetisch von den Geschäftsbanken mit den Spareinlagen der Bürger getrennt. Es war ein wesentlicher Stabilitätsfaktor des amerikanischen Bankensektors, bis es unter Bill Clinton 1999 abgeschafft wurde. Mit seiner (Wieder-)Einführung, auch bei uns, könnte heute die Derivatblase platzen, ohne die Realwirtschaft zu beeinträchtigen.
Trotzdem wäre eine massive Liquiditätsverknappung die Folge. Und deshalb möchte ich zum Schluss auf die Rolle produktiver, staatlicher Kreditschöpfung zu sprechen kommen. Vorbild sind die Maßnahmen des ersten Finanzminister der jungen Vereinigten Staaten, Alexander Hamilton. Mit der Ersten Nationalbank schuf er 1791 eine Institution, die nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen das britische Imperium nicht nur die daraus entstandenen Schulden der 13 Bundesstaaten gegenüber ihren Bürgern zentral zusammenfasste, sondern auch den notwendigen Kredit für das Manufakturwesen und den Infrastrukturaufbau des Landes zur Verfügung stellte. Die Pflanzung der produktiven Kräfte – wir erinnern uns.
Ohne ins technische Detail zu gehen: Die Herausforderung ist eine konzeptionelle. Normalerweise denken wir, daß Kredit im Wesentlichen auf zuvor akkumuliertem Kapital beruht. Hamilton machte es andersherum: Er schuf den Kredit auf Basis der zukünftigen Leistung, um so dem Landwirt oder Handwerker die Herstellung realer Werte zu ermöglichen, sowie dem Staat, notwendige Infrastrukturverbesserungen vorzunehmen. Die so ausgelöste wachsende wirtschaftliche Aktivität und das resultierende erhöhte Steueraufkommen ermöglichte den privaten und staatlichen Kreditnehmern, die Kredite zurückzuzahlen und zusätzlich die Kreditbasis zu vergrößern.
Noch ein Beispiel aus der deutschen Geschichte: In einem Geheimtreffen der Friedrich-List-Gesellschaft im Jahr 1932 trug der Ministerialdirigent im Reichswirtschaftsministerium, Dr. Wilhelm Lautenbach, einen Plan zur Überwindung der Wirtschaftskrise vor, dem ähnliche Überlegungen zu Grunde lagen. Sein erstes Argument war, daß die (Brüningsche) Sparpolitik nur zu einer immer weiteren Kontraktion wirtschaftlicher Aktivitäten führe – Entlassungen, weniger Kaufkraft, weitere Entlassungen usw. Deshalb, so Lautenbach, müsse der Staat Maßnahmen ergreifen, um es der Volkswirtschaft zu erlauben, sich aus der Krise „herauszuproduzieren“. Deshalb müsse der Staat gezielt Kredit zur Verfügung stellen, um brachliegende Kapazitäten sowohl in der Industrie, als auch bei den Arbeitslosen zu aktivieren. Als Projekte kämen Erhalt und Verbesserungen der Infrastruktur in Frage, die der Staat in guten Zeiten sowieso in Angriff zu nehmen hätte. Das Resultat wäre eine erhöhte Nachfrage nach Investitionsgütern oder z.B. Baumaterialien, eine erhöhte Kaufkraft durch mehr Beschäftigung und ein erhöhtes Steueraufkommen des Staates bei rückläufigen Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung.
Ein ähnlicher Lösungsvorschlag kam damals mit dem Woytinsky-Tarnow-Baade-Plan auch von Gewerkschaftsseite. Die rechtzeitige Umsetzung dieser Pläne hätte bereits 1932 zu einer spürbaren Verbesserung der wirtschaftlichen Lage geführt und der Machtergreifung der Nazis den Boden entziehen können. Aber wohl aus Angst vor einer erneuten Inflation - nach den Erfahrungen von 1923 - fand sich im Reichstag keine Mehrheit für diese Pläne.
Ich möchte unterstreichen, daß die Kreditvergabe in diesen Modellen nur unter ganz spezifischen Bedingungen erfolgen darf. Erstens können nur Investitionen in die Verbesserung der produktiven Basis finanziert werden. Und zweitens auch nur solange, wie sich brachliegende Kapazitäten aktivieren lassen. Es ist also etwas ganz anderes, als das jetzige Gelddrucken der Zentralbanken, was ja nur zur weiteren Aufblähung der Finanzblasen geführt hat.
Heute sind wir in Deutschland nach Jahrzehnten wissenschaftsfeindlicher grüner Politik und den damit einhergehenden Produktivitätsverlusten mit einer Welle von Insolvenzen konfrontiert (letztes Jahr über 17.000, dieses Jahr werden über 20.000 erwartet). Gleichzeitig verlegen Firmen, die es können, zunehmend ihre Produktion in andere Länder, wo sie vor allem günstigere Energiepreise vorfinden.
Lyndon LaRouche hat 2014 einen 4-Punkte-Plan als Maßnahmenpaket für die Länder des Westens vorgelegt, der mit vielen Aspekten der Maßnahmen und Ziele der BRICS+-Staaten korrespondiert:
Glass-Steagall-Trennbankensystem (wieder)einführen
Schaffung eines Kreditsystems mit Hilfe der Gründung einer Nationalbank im Hamiltonischen Sinne
Produktive Kreditschöpfung zur Finanzierung eines nationalen Wiederaufbauprogramms mit Schwerpunkt auf Infrastrukturentwicklung
Sofortprogramme zur Entwicklung der kontrollierten Kernfusion und der Weltraumfahrt, um das Produktivitätsniveau massiv zu erhöhen.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die multipolare Welt ist bereits eine Tatsache und nicht mehr rückgängig zu machen – es sei denn durch einen allgemeinen Krieg, den dann aber niemand überleben würde. Die neu entstehende Ordnung hält viele Chancen für den Westen bereit, vorausgesetzt, wir legen unseren Überlegenheitsdünkel ab und arbeiten mit den Ländern des Ostens und Südens auf Augenhöhe zusammen.
Die neuen Strukturen richten sich gegen niemand und sind für alle offen. Ergreifen wir die uns dargebotene Hand. Dann können wir uns aus der Gefahr von wirtschaftlichem Kollaps und Krieg befreien und gemeinsam eine neue Ära der Zusammenarbeit und Prosperität erreichen.
Der Autor ist 2. stellvertretender Bundesvorsitzender der Bürgerrechtsbewegung Solidarität. Der Artikel ist die überarbeitete Version eines Vortrages vom Juni 2024 und ist mit Graphiken in der neuen BüSo-Broschüre "Zusammenarbeit mit den BRICS - Wählt die Kriegstreiber ab" abgedruckt.