Einige aktuelle Überlegungen zu den Voraussetzungen einer europäischen Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert
von Christoph Mohs
Der Eklat beim Washingtoner Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Regierungschef Wolodymyr Selenskyj am 28. Februar 2025 sollte auch den nur oberflächlichen Beobachtern internationaler Entwicklungen vor Augen geführt haben, dass die „regelbasierte Ordnung“ des „transatlantischen Bündnisses“ vollkommen „liberaler Demokratien“ gegenüber den „autokratisch geführten Diktaturen“ im Osten und Süden des Globus’ ein für alle Mal zuende ist. Und während sich die Medienanalysten weltweit noch darüber streiten, ob dieser Eklat nun vom Stab des Weißen Hauses gezielt inszeniert wurde oder nicht, ist von einem etwas distanzierteren Standpunkt aus betrachtet letztlich unerheblich; Tatsache ist und bleibt, dass die neue US-Administration eine komplett neue Ausrichtung ihrer strategischen Außenpolitik eingeschlagen hat, als ihre Vorgänger und als die „360-prozentigen“ unipolaren Kriegstreiber diesseits des Atlantiks. Diese neue US-Außenpolitik blitzte im Übrigen schon im amerikanischen Wahlkampf des letzten Jahres recht klar hervor und – ob man dies in den Regierungsbezirken und Redaktionsetagen insbesondere der westeuropäischen Länder nun wahrnehmen wollte oder nicht – war in den letzten Wochen seit Trumps Amtsantritt bereits mehr als deutlich formuliert und umgesetzt worden.
Offenbar schließt man im westeuropäischen Establishment aber von sich auf andere und konnte sich deshalb einfach nicht vorstellen, dass es jemanden mit Einfluss geben könnte, der tatsächlich das macht, was er laut und deutlich angekündigt hatte – ja mehr noch, dass er dies sehr zielstrebig, rasch und nicht gerade zimperlich durchsetzen will und kann!
Es sollte den Europäern und den übrigen fünfäugigen (1) Unipolaristen also spätestens jetzt dämmern, dass die bisherigen neokolonialen und geoimperialen Mechanismen der planetaren Kontrolle und Steuerung nicht mehr so funktionieren werden, wie bisher. Damit soll jedoch keinesfalls gesagt werden, dass mit Trump nun der glorreiche Ritter auf dem glücksbringenden Schimmel erschienen ist, der das Paradies auf Erden schaffen wird und alles Übel beseitigt. Was man aus dem bisherigen Verhalten der neuen US-Regierung vielmehr ablesen kann, lässt auf eine die amerikanischen Interessen noch deutlicher betonende Phase schließen, die ihre Schwerpunkte bei der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik noch weniger mit den europäischen „Partnern“ abstimmen wird. Man kann darüber lamentieren, ändern wird das jedoch nichts.
Deshalb steht den Europäern nun der ungeschminkte Blick in den Spiegel – eine ideologie- und tabufreie Analyse der realen Gegebenheiten zuhause und weltweit – bevor, auf die eine nüchterne und doch zugleich ambitionierte Definierung der wahren europäischen Interessen für die nächsten Jahrzehnte folgen muss. Dabei sollten zwei Klippen beachtet und tunlichst umschifft werden, an denen diese europäischen Interessen in der Vergangenheit bereits des öfteren Schiffbruch erlitten haben: zum einen decken sich die Interessen der unterschiedlichen Länder des Kontinents zwar in vielen Bereichen; jedoch gibt es auch jeweils nationale Interessen, die sich z.T. durchaus deutlich unterscheiden. Dies ist nicht weiter tragisch, solange man sich dessen bewusst ist und diese Unterschiede klar anspricht und berücksichtigt. Dazu müssen die jeweiligen nationalen Interessen jedoch – insbesondere in Deutschland – erstmal klar definiert werden; sonst darf man sich nicht wundern, wenn nicht nur die Vereinigten Staaten regelmäßig darüber hinweggehen, als gäbe es sie gar nicht!
Zum anderen sollte man sich besonders diesseits des Ärmelkanals den Unterschied zwischen nationalstaatlichen und (geo-)imperialen Interessen vor Augen führen: nationales Interesse orientiert sich stets am Allgemeinwohl der eigenen Bevölkerung sowie am Interessenausgleich mit den Nachbarstaaten; eine imperiale Strategie hingegen richtet sich weder am Wohl des eigenen Volkes noch an den Interessen der anderen Staaten aus, sondern strikt am Machtzuwachs und -erhalt der herrschenden Oligarchie. Dass Großbritannien in der Vergangenheit eine eindeutig imperiale Politik verfolgte, ist kein Geheimnis und wird im Geschichtsunterricht weltweit gelehrt. Wie sieht es jedoch heutzutage mit dem „Vereinigten Königreich“ aus? Und wie mit der oft zitierten und dennoch selten verstandenen „Special Relationship“ zwischen UK und US? Wurden die Vereinigten Staaten nicht erst dadurch zu einer souveränen Nation, dass sie sich von der britischen Monarchie lossagten und unabhängig erklärten? Hat das britische Empire jemals das Ende seiner Existenz verkündet, so, wie die Bundesrepublik Deutschland sich ganz klar vom Staatsfaschismus des Dritten Reiches distanzierte?
Warum haben sich die amerikanischen und kontinentaleuropäischen Staaten nach dem 2. Weltkrieg nie prinzipiell gegen imperialistische Strömungen – von wem auch immer sie nun ausgehen mögen – ausgesprochen? Warum gibt es darüber noch nicht einmal eine breit und offen geführte Debatte in Europa? Kann es sein, dass die derzeit in Europa dominierenden (und westlich dominierten) Institutionen in Politik, Nachrichtendiensten, Wirtschaft, Finanz- und Militärwesen und selbst der Wissenschaft und Kultur (geo-)imperiale Strategien verfolgen? Institutionen wie die EU, die NATO, der IWF, die WTO, die westlichen Nachrichtendienste, die Mainstream-Medien, die globalen Techgiganten und anderen global agierenden Konzerne und Finanzinstitute; woher beziehen die Universitäten und Kulturträger ihre finanziellen Mittel, um arbeiten zu können, und was müssen sie dafür tun?
Diese und vergleichbare Fragen müssen gestellt und von jedem Land ehrlich erörtert und beantwortet werden, bevor eine erfolgsversprechende nationale – ganz zu schweigen von einer europäischen – Strategie skizziert werden kann. Im Übrigen wird genau dies von einem „erwachsenen“, also eigenständigen Staat erwartet und wäre die Grundlage nicht nur für einen politischen Dialog mit den USA, sondern auch mit Russland, China und Indien – und auch mit allen anderen souveränen Ländern. Die europäischen Regierungen, die sich derzeit darüber beschweren, dass sie nicht in die Verhandlungen über ein Ende des Ukrainekonflikts einbezogen werden, sollten sich diese Überlegungen zu Herzen nehmen: man verhandelt doch nicht mit dem Gärtner oder dem Nachbarn über die Grenzmarkierungen eines Anwesens, sondern mit dessen Besitzer!
Zur nachhaltigen Überwindung des immer noch anhaltenden Ukrainekonflikts ist eine rückhaltlos ehrliche Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten unausweichlich:
- Der Krieg um die strategische Hoheit im Donbass war weder unprovoziert, noch begann er mit der aktiven Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022! Jeder aufmerksame Beobachter internationaler Beziehungen hätte spätestens mit der Beitrittsforderung George W. Bushs für Georgien und die Ukraine in die NATO im Jahre 2008 wissen können, dass die mehrstufige Ostausweitung dieses ehemals ‚nordatlantischen Verteidigungsbündnisses‘ wenig mit der „selbstgewählten Verteidigungspartnerschaft souveräner Staaten“ und rein gar nichts mit einer unteilbaren und gleichberechtigten Sicherheitsordnung aller beteiligten Länder zu tun hatte.
- Die öffentlich erklärte Strategiedoktrin des ‚kollektiven Westens‘ war das „Projekt einer unipolaren Weltordnung für ein neues, amerikanisches Jahrhundert“ (PNAC; Project for a New American Century Doctrin(2)), die später unter dem verschleiernden Begriff einer „wertebasierten Ordnung“ firmierte, statt sich auf die Charta der UNO zu stützen. Eine derartige unipolare Weltordnung ist gleichzusetzen mit der Neuauflage einer militärisch erzwungenen ‚Römischen Friedensordnung‘, einer weltweiten „Pax Americana“. Dieses geoimperiale Konstrukt wurde von den US-Neokonservativen um Paul Wolfowitz und Richard Perle in Zusammenarbeit mit britischen und transatlantischen Nachrichtendiensten und Denkfabriken bereits in den 1990er Jahren entwickelt und zielte auf eine Umformung aller westlich dominierten internationalen Institutionen sowie auf Regimewechsel aller dieser Möchtegern-Weltherrschaft im Wege stehenden Regierungen im Sinne einer „liberal-demokratischen“ Diktatur ab. In Großbritannien wurde diese Doktrin vor allem durch Toni Blair und dessen Sicherheitsberater Robert Cooper (3) unter dem Begriff „Resposibility to Protect“ (R2P) gerechtfertgt und nach dem 11. September 2001 gegen Afghanistan, den Irak, Libyen, Syrien, den Jemen usw. umgesetzt.
- Die aus diesem doktrinären Denken heraus von westlicher Seite gebetsmühlenartig wiederholte Argumentationkette, der „Aggressor Putin“ würde seinen „imperialistischen Expansionsdrang“ weiter nach Westen fortsetzen, wenn man sich ihm in der Ukraine nicht in den Weg stelle, wurde und wird durch keinerlei belastbare Beweise oder wenigstens Indizien unterfüttert. Sie ist jedoch notwendig für eine Rechtfertigung immer ausgedehnterer Waffenlieferungen und Geldzuwendungen an Kiew und eine brutale Sanktionspolitik, die nicht nur Russland, sondern vor allem den westlichen Volkswirtsachften schadet (4). Dagegen sprechende Argumente, die die Vorgehensweise der russischen Regierung vielleicht nicht gutheißen, aber zumindest erklären könnten (wie die Stationierung westlicher strategischer Waffensysteme in Osteuropa, die Forderungen Selenskyjs nach atomarer Bewaffnung der Ukraine, die massiven Truppenverlegungen der NATO-Länder im zweiten Halbjahr 2021 nach Osten, sowie die brüske Ablehnung der russischen Forderung einer „gemeinsamen, unteilbaren Sicherheitsordnung“ für ganz Europa seitens des Westens), werden tunlichst verschwiegen.
- Die sukzessive Annäherung der EU-Außenpolitik an die aggressive NATO-Agenda und deren faktische Verschmelzung nach der Invasion Russlands in die Ukraine unter Ursula von der Leyen und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erodierte die ohnehin schon marginalisierten Ursprungsprinzipien der Europäischen Gemeinschaft endgültig und verkehrte sie geradezu ins Gegenteil: die Ideale von Kooperation und Friedensgebot verwandelten sich beinahe unkommentiert von den europäischen Medien in militaristische Utopien ohne rationale Grundlagen und ohne positive Zukunftsvisionen einer gemeinsamen Entwicklungskooperation!
Hat man sich dieser strategischen Analyse erst einmal vorbehaltlos gestellt und die daraus resultierenden Korrekturen des Ist-Zustands vorgenommen, kann man den Blick nach vorne richten und sich – ebenso vorbehaltlos – der Skizzierung einer Zukunftsvision widmen. Dazu gehören auch die Aufarbeitung weiterer als sakrosankt geltenden Grundannahmen im Wirtschafts- und Wissenschaftsbereich, was an dieser Stelle zuweit führen würde; aber unter der Prämisse des Zieles einer gemeinsamen, unteilbaren und gerechten Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur für (zunächst) ganz Europa wird man sich einer wirklich nachhaltigen, globalen Friedensordnung sehr weit annähern können.
Fussnoten:
(1): gemeint ist die weltweite Kooperation anglo-amerikanischer Geheimdienste, die unter dem Begriff ‚fife eyes‘ (fünf Augen: GB, USA, Kanada, Australien, Neuseeland) bekannt ist.
(2): https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century#:~:te...
(3): Wikipedia schreibt dazu: Cooper ist vor allem für seine Darlegung der Doktrin des „neuen liberalen Imperialismus“ bekannt, die er in seinem Essay The Post-Modern State (2002) zum Ausdruck bringt.
(4): An dieser Sanktionspolitik wird am deutlichsten, dass es sich beim Ukrainekrieg nicht um eine Strategie im nationalen Interesse der Ukraine oder der westeuropäischen (und noch nicht einmal der nordamerikanischen) Staaten handelt, sondern um Geopolitik zugunsten einer unipolaren Weltordnung.