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Regierungsstürze in London, Rom, Colombo: Vorboten einer globalen Neuausrichtung?

von Alexander Hartmann

„Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, sagt Schillers Wallenstein in Wallensteins Tod: Wenn die Akteure der Weltpolitik über ihren Ideen den Bezug zur Realität verlieren, dann zwingt die harte Realität sie über kurz oder lang wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Für manche dieser Akteure bedeutet diese Rückkehr zur Realität einen Schock oder gar einen schmerzhaften Sturz. Als Frankreich am 14. Juli den Jahrestag des Sturms auf die Bastille feierte, dürften sich führende westliche Politiker gefragt haben, ob es ihnen schon bald ähnlich ergehen wird wie Boris Johnson und Mario Draghi oder gar Sri Lankas Präsident Gotabaya Rajapaksa, der einen Tag zuvor aus dem Amt gejagt worden war und ins Ausland fliehen mußte.

Boris Johnson mußte am 7. Juli als Parteivorsitzender der britischen Konservativen zurücktreten und tritt als Premierminister ab, sobald die Partei sich auf einen Nachfolger geeinigt hat. Die Konservativen möchten nun unter der Führung eines neuen, unverbrauchten Gesichts dieselbe Politik fortsetzen, nachdem sie bei jüngsten Nachwahlen verheerende Niederlagen erlitten hatten. Aber der Unmut der Bevölkerung richtet sich gegen die Folgen eben dieser Politik, und es wird ihr egal sein, wer in der Downing Street dafür verantwortlich zeichnet, wenn sie sich nicht ändert.

Mit dem Rücktritt des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi am 14. Juli brach dann eine Woche später die zweite NATO-Kriegs-Regierung in Europa zusammen. Ein Koalitionspartner, die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), hatte wie angekündigt nicht für ein Wirtschaftsgesetz der Regierung gestimmt, mit dem Draghi eine Vertrauensabstimmung im Senat verbunden hatte. Die M5S kritisiert die Ukraine- und die Wirtschaftspolitik der Regierung. Matteo Salvini, Chef der Lega, eines weiteren wichtigen Koalitionspartners, hatte im Vorfeld angekündigt, in dem Fall werde die Lega die Regierung verlassen. Salvini twitterte: „Es ist besser, die Italiener zur Wahl aufzurufen, als sie neun Monate lang Achterbahn fahren zu lassen“ bis zum regulären nächsten Wahltermin. Auch die Oppositionspartei Fratelli d'Italia (FdI) forderte vorgezogene Neuwahlen.

Staatspräsident Mattarella weigerte sich jedoch, den Rücktritt anzunehmen, und beauftragte Draghi, eine neue Mehrheit im Parlament zu suchen. Aber selbst wenn er es schaffen sollte, ein Technokratenregime zusammenzubringen, wird das die Wut der Bevölkerung nicht besänftigen, wenn es versucht, die bisherige Politik fortzusetzen.

In Sri Lanka stürmte ein wütender Mob den Präsidentenpalast und das Büro des Premierministers, Präsident Gotabaya Rajapaksa floh am 13. Juli mit dem Flugzeug auf die Malediven und soll sich auf dem Weg nach Singapur befinden. Auch der Premierminister hat seinen Rücktritt zugesagt, bleibt aber bis zu den Neuwahlen als amtierender Präsident im Amt. Er hat dazu aufgerufen, einen Premierminister zu ernennen, der sowohl für die Regierung als auch für die Opposition akzeptabel ist.

Hintergrund des Aufruhrs ist der völlige Zusammenbruch der Wirtschaft: Im April mußte Sri Lanka wegen der steigenden Lebensmittel- und Treibstoffpreise, zusätzlich zu den Folgen der Corona-Pandemie, die Bedienung ausländischer Anleihen einstellen, kurz darauf hatte die Zentralbank vorsorglich die Zahlungsunfähigkeit des Landes erklärt. Monatelang fehlten der Regierung die Devisen für lebenswichtige Importe, was eine Massenprotestbewegung auslöste, die nun zum Sturz des Präsidenten führte.

Insbesondere für die EU-Staaten sollte dieses Beispiel eine Mahnung sein, denn ein wichtiger Faktor der Krise war Rajapaksas Entscheidung, eine 100% „biologische“ Agrarpolitik einzuführen, was die Erträge der Bauern dramatisch einbrechen ließ und so die einzige Quelle erschwinglicher Nahrungsmittel vernichtete. Auch in Europa warnen Landwirte, daß die stark inflationierten Preise für landwirtschaftliche Betriebsmittel in Verbindung mit der fanatisch grünen Politik der EU, die derzeit von den Mitgliedstaaten in die nationale Gesetzgebung übernommen wird, verheerende Ertragseinbrüche nach sich ziehen werden.

Energie-Triage?

Auch in Deutschland stoßen sich nun hart im Raum die Sachen: Die Folgen der Rußland-Sanktionen haben bereits zu einer hyperinflationären Explosion der Energiepreise geführt. So warnte der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Rainer Dulger, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vor einem dramatischen Einbruch der Wirtschaft. „Es sieht so aus, als ob Rußland das Gas stark verknappt oder auf Dauer gar nichts mehr liefert… Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte.“ Ein Gas-Lieferstopp stelle die deutsche Wirtschaft vor ernste Probleme. „Das bleibt nicht auf die Industrie beschränkt, sondern trifft alle. Das ist eine völlig neue Situation. Wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erstmal verlieren.“

Noch viel dramatischer ist die Aussicht, daß die Gasversorgung spätestens im Winter nicht für den gesamten Bedarf ausreichen könnte und dies eine „Energie-Triage“ erzwingen wird. Nun scheiden sich die Geister: Sollen im Zweifelsfall die Privathaushalte Vorrang haben, die das Gas im Winter zum Heizen benötigen, oder die Gaskraftwerke, ohne die die Stromversorgung zusammenbrechen würde, oder die chemische Industrie, ohne deren Produkte auch die übrigen Industriebetriebe bald den Betrieb einstellen müßten? Oder sollte man angesichts der sich unübersehbar abzeichnenden Konsequenzen nicht einen grundsätzlichen Kurswechsel vollziehen, weg von der produktionsfeindlichen neoliberalen und grünen Politik und der Konfrontation gegen Länder, die sich ihr nicht unterwerfen wollen, und zurück zu einer Politik des Wirtschaftsaufbaus in Kooperation mit der übrigen Welt?

Diese Option wird in dieser krassen Form von den Berliner Koalitionären nicht ausgesprochen und vermutlich nicht einmal erwogen, aber es mehren sich die Anzeichen dafür, daß wenigstens einige der beteiligten Akteure sich inzwischen an Gedanken heranwagen, die bis vor kurzem noch undenkbar waren. So brachte der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Christian Dürr, angesichts der drohenden Energieverknappung die Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen drei Kernkraftwerke ins Gespräch. Wenn sich die Energiekrise weiter zuspitzt, könnte dieser Riß im Koalitionskonsens sich sehr schnell zu einer Bruchstelle ausweiten, an der sich das Schicksal der Koalition entscheidet. Auch in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der Rußland-Sanktionen an sich melden sich inzwischen immer mehr kritische Stimmen. Warum soll man an ihnen festhalten, wenn sie Deutschland viel härter treffen als Rußland?

„Das Amerikanische Jahrhundert ist vorbei“

Angesichts dieser Entwicklungen breitet sich im Lager der „etablierten“ anglo-amerikanischen Politik Nervosität aus. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist ein geradezu hysterischer Gastbeitrag des NATO-Grünen Ralf Fücks am 13. Juli bei Spiegel online. In einem Tonfall, als käme der Text direkt aus den Propagandamühlen des Weißen Hauses oder der Downing Street, ereifert sich Fücks: „Deutsche Unterwerfungspazifisten wollen die Ukraine zum Aufgeben bewegen, Kanzler Scholz bleibt unbefriedigend vage… Die Aussicht, daß der Kreml seine Gaslieferungen auf null herunterfahren könnte, veranlaßt die Bundesregierung, Kanada um eine Aussetzung der Exportsanktionen gegen Rußland zu bitten und die Lieferung einer Turbine für die Gaspipeline Nord Stream 1 freizugeben… das Hemd sitzt uns näher als der Rock.“

Was Fücks‘ Tiraden vielleicht mehr als alles andere zeigen, ist Angst - Angst, daß die anglo-amerikanischen Eliten, deren Unterstützung er seine Karriere verdankt, vielleicht nicht mehr genug Einfluß haben, das Festhalten am bisherigen Kurs zu erzwingen.

Diesen Machtverlust sehen auch andere. Harper's Magazine widmete seine Juli-Ausgabe dem Thema „Das Amerikanische Jahrhundert ist vorbei“. Prof. Daniel Bessner von der Universität Washington beginnt seinen Beitrag mit einem Zitat von Henry Luce, dem Gründer der Zeitschriften Time, Fortune und Life. Dieser hatte 1941 das „Amerikanische Jahrhundert“ ausgerufen und die USA aufgefordert, in den Krieg einzutreten und „von ganzem Herzen unsere Pflicht und Chance als mächtigste und lebenswichtigste Nation der Welt zu akzeptieren und ... die ganze Macht unseres Einflusses auf die Welt auszuüben, für die Zwecke, die wir für richtig halten, und mit den Mitteln, die wir für richtig halten“.

Bessner kommt zu dem Schluß: „Das Amerikanische Jahrhundert hat die hochgesteckten Ziele, die Oligarchen wie Henry Luce sich gesetzt hatten, nicht erreicht. Es hat aber gezeigt, daß Versuche, die Welt mit Gewalt zu beherrschen, scheitern werden. Die Aufgabe der nächsten hundert Jahre wird darin bestehen, kein Amerikanisches Jahrhundert, sondern ein Globales Jahrhundert zu schaffen, in dem die Macht der USA nicht nur beschränkt, sondern reduziert wird, und in dem sich jede Nation der Lösung der Probleme widmet, die uns alle bedrohen. Wie der Titel eines Bestsellers aus dem Jahr 1946 erklärte, bevor der Kalte Krieg jeden Versuch einer echten internationalen Zusammenarbeit ausschloß, werden wir entweder Eine Welt oder keine Welt haben.“

Um die Diskussion auf die Frage zu lenken, was zu tun ist, um die globale Krise zu überwinden, verbreitet das Schiller-Institut einen „Aufruf für ein internationales Ad-hoc-Komitee für ein Neues Bretton-Woods-System”,2 der auf die Schaffung einer neuen globalen Wirtschafts- und Entwicklungsarchitektur abzielt und der inzwischen von mehr als tausend Menschen aus aller Welt unterzeichnet wurde. Studieren Sie diesen Aufruf, unterzeichnen Sie ihn und helfen Sie mit, ihn zu verbreiten, damit wir auch in Zukunft „eine Welt haben“.