06131-237384info@bueso.de

Wird Schweden zum neuen Epizentrum der Corona-Pandemie?

Von Hussein Askary und Ulf Sandmark - Stockholm, 15.3.2020

Warnungen aus Italien und Stellungnahmen unabhängiger schwedischer Experten über die Notwendigkeit, drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu ergreifen, sind von der schwedischen Regierung und den Fachbehörden ignoriert worden, was zu einer scharfen Reaktion des italienischen Botschafters in Schweden geführt hat (s.u.). Das schwedische Staatssystem mit unabhängigen Behörden, die über der Regierung stehen, und einem Gesundheitssystem, das in den letzten drei Jahrzehnten dezentralisiert und einer rigorosen neoliberalen Sparpolitik unterzogen wurde, hat eine Situation geschaffen, in der Maßnahmen nicht koordiniert werden und Schweden zu einem neuen Epizentrum der Coronavirus-Pandemie zu werden droht. Dänemark hatte am 14. März seine Grenze zu Schweden geschlossen, um die Ausbreitung der Ansteckung zu unterbinden. Am selben Tag erschien auch in der chinesischen Zeitung Global Times ein Artikel, worin Schweden vorgeworfen wurde, es „kapituliere“ vor dem Virus und drohe zu einem „schwarzen Loch“ zu werden, worin sich das Virus entfalten kann.

Viele in Schweden - nicht zuletzt die Beschäftigten im Gesundheitswesen - sind schockiert über die Passivität der Regierung und Behörden angesichts dessen, was selbst Ministerpräsident Stefan Löfven als die schlimmste Gesundheitskrise seit einem Jahrhundert bezeichnete. Doch über dramatische Äußerungen hinaus hatten Löfven und seine Minister auf ihrer Pressekonferenz am 11. März nichts zu bieten; sie betonten im Gegenteil, ein „Lockdown“, eine Ausgangssperre, sei nicht notwendig. Sie sagten sogar, das Aufspüren und Testen von Personen - selbst solchen mit Symptomen - sollte eingestellt werden, außer für Patienten und Mitarbeiter der Krankenhäuser! Dabei mußten sie zugeben, daß das schwedische Gesundheitssystem unter akuten Kapazitätsproblemen und mangelnder Materialausstattung leidet. So fehlt es zum Beispiel in den meisten Krankenhäusern an Schutzausrüstung für die Beschäftigten.

Die Regierung hat auch beschlossen, die Schulen offen zu halten und die Bewegungsfreiheit von Personen nicht einzuschränken. Das einzige Verbot betrifft Versammlungen von mehr als 500 Personen. Alle weitergehenden Vorsichtsmaßnahmen wurden entweder von lokalen Behörden oder von Privatunternehmen getroffen, die ihre Geschäfte vorübergehend einstellen.

Die Bevölkerung hat den Ernst der Lage offenbar schneller verstanden als die Regierung und beginnt, sich von öffentlichen Bereichen fernzuhalten und Versammlungen, Restaurants und öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Was die Menschen vor allem erzürnt, ist die Einstellung, daß man „eigentlich nichts zu kann“, um die Epidemie zu stoppen, und die Entwicklung quasi einem „natürlichen Selektionsprozeß“ überläßt.

 

Unverantwortliche Äußerungen

 

Dies kam in den Hauptnachrichten von TV4 am Abend des 12. März in einem schockierenden Interview mit dem schwedischen WHO-Berater Johan Giesecke zum Ausdruck, der den Beschluß der Regierung, die Schulen nicht zu schließen, offen begrüßte. Dann behauptete er zynisch, es gebe „keine bekannten, nachgewiesenen Fälle, bei denen Ausgangssperren dazu beitragen haben, die Infektion zu verringern oder zu stoppen“. Er verteidigte auch die Entscheidung vom Vortag, Corona-Tests einzustellen und Infizierte in der Bevölkerung nicht zurückzuverfolgen: „Solche Tests sind in der Phase, wo die Ansteckung bereits im Land ist, nutzlos.“ Auf die Frage, was zu tun sei, wenn es keine Schulschließungen und keine Tests gebe, sagte er: „Es sind die älteren Menschen, die gefährdet sind, und sie sollten so gut wie möglich versorgt und geschützt werden.“ Man solle sie isolieren mit dem Ziel, „den Spitzendruck auf das Gesundheitssystem zu verteilen, damit die Krankenhausressourcen eine größere Chance haben, damit fertig zu werden“.

Auf die Frage, warum andere Länder ganz anders vorgingen, verteidigte er das schwedische „Expertensystem“ und behauptete: „Die Politiker anderswo wollen nur zeigen, daß sie stärkere Maßnahmen ergreifen als ihre Nachbarn.“

Auf diesen WHO-Berater folgte ein weiterer schwedischer WHO-Experte, Johan von Schreeb, Professor für globale Katastrophenmedizin am prominenten Karolinska-Institut. Auch er meinte, das Vermeiden des Händeschüttelns allein sei schon ein wirksames Mittel, um sich nicht anzustecken. Allerdings werde das Gesundheitssystem unter enormen Druck geraten, wenn alle gleichzeitig krank werden. Aber wenn es gelinge, eine dramatische Zuspitzung zu vermeiden und die Infektionsraten über einen längeren Zeitraum zu strecken, werde das Gesundheitssystem dem Druck standhalten. Außerdem erwartete er, daß die Epidemie „nach nur drei bis sechs Monaten“ vorbei sein werde.

Er wie auch Giesecke ignorierten die Tatsache, daß sich auch Beschäftigte im Gesundheitswesen infizieren können, zumal wenn sie nicht ausreichend geschützt werden. Die Infektionsrate unter Ärzten und Pflegekräften könnte unter diesen Umständen sogar höher sein als in der übrigen Bevölkerung. Wenn das geschieht, wird das Gesundheitssystem völlig zusammenbrechen und die Sterblichkeit in die Höhe schießen. Die Äußerungen dieser beiden „Experten“ überschreiten die Grenze von geistiger Verwirrung zu krimineller Fahrlässigkeit.

Am Ende stand von Schreebs erschreckende Aussage, daß „die Ärzte bald harte Entscheidungen treffen müssen“, weil es an Beatmungsgeräten mangelt: „Wir werden entscheiden müssen, ob es würdevoll ist, einen 90 Jahre alten Menschen an ein Beatmungsgerät anzuschließen.“ Von Schreeb ist Chirurg bei „Ärzte ohne Grenzen“ mit internationaler Erfahrung aus der Ebola-Epidemie und auch Experte der WHO, der deren Klassifizierung und Standards für die Versorgung bei plötzlichen Katastrophen mitverfaßt hat.

 

Warnungen in den Wind geschlagen

 

Der Leiter der schwedischen Seuchenschutzbehörde, der Epidemiologe Anders Tegnell, ist täglich im Fernsehen zu sehen, um die Bevölkerung mit entspannten Aussagen wie „Wir sollten nicht mehr schließen als nötig“ zu beruhigen. Dagegen warnte der Chef der Ärztevereinigung im italienischen Rimini, Mauricio Grosso, Schweden davor, zu langsam auf das Coronavirus zu reagieren. Er wurde am 11. März in den TV2-Nachrichten „Aktuellt“ interviewt, wo über die geschlossenen Schulen, Geschäfte, Supermärkte usw. in Italien berichtet wurde. Er riet Schweden dringend, dem italienischen Beispiel „sofort zu folgen“. Auch in Italien habe es anfangs nur wenige Fälle gegeben, aber jetzt herrschten Zustände, wie er sie von seinen Eltern über die Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg gehört habe.

Arrogant erwiderte Anders Tegnell mit der Litanei, es gebe keinen nachgewiesenen positiven Effekt so groß angelegter Quarantänemaßnahmen, und: „Wir [Schweden] haben viel bessere Voraussetzungen, um damit umzugehen, und werden deshalb nicht in eine solche Situation geraten“ wie Norditalien.

Diese Kritik hat der italienische Botschafter in Schweden, Mario Cospito, in einer offiziellen Presseerklärung scharf zurückgewiesen. Er wolle Schweden „darüber informieren“, daß die italienischen Gesundheitsbehörden intensiv daran arbeiten, infizierte Patienten „mit Effizienz, Professionalität und maximalem Einsatz“ zu betreuen. „Niemand stellt das italienische Gesundheitssystem in Frage“, schrieb er unter Verweis auf die WHO und das ECDC, das in Stockholm ansässige Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten. Seine Schlußfolgerung: „Der Kampf gegen die Verbreitung von COVID-19 ist kein Fußballspiel, bei dem die gegnerischen Cheerleader ihre Spieler unterstützen: Es geht um eine globale und gemeinsame Herausforderung, die Gesundheit für alle zu garantieren, wobei die ,Gewinner’ die Tausenden von Ärzten, Krankenschwestern und Angestellten im Gesundheitswesen sind, die in Italien sieben Tage die Woche rund um die Uhr arbeiten.“

Auch der Vorsitzende des schwedischen Schiller-Instituts, Ulf Sandmark, prangerte die Untätigkeit seiner Regierung an, als er sich am Morgen des 13. März telefonisch in eine Sendung des nationalen öffentlichen Radiosenders P1 einschaltete. Sandmark konfrontierte die Corona-Experten des Senders mit der Realität des Coronavirus und verwies auf das von der chinesischen Regierung und jetzt auch von Italien verwendete Modell. In ihren Antworten stimmten die Experten der Einschätzung des Problems teilweise zu und verwiesen darauf, daß die schwedischen Gesetze im Grunde dieselben strengen Maßnahmen wie in China zuließen.

In der führenden Tageszeitung Dagens Nyheter erschien am gleichen Tag ein Aufruf „Macht Schweden dicht, um Schweden zu schützen“, worin den Behörden langsame Entscheidungsfindung vorgeworfen und zu sofortigen strengen Quarantänemaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aufgerufen wurde.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß das schwedische Gesundheitssystem schon vor der Corona-Krise in der Krise steckte. Daher ist es nicht schwer vorherzusehen, daß jetzt ein totaler Zusammenbruch des Gesundheitssystems droht und die „natürliche Auslese“ sich Bahn bricht. Das hat viele in der Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt.

Viele Regionen und Krankenhäuser berichten bereits über einen gravierenden Mangel an Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln, was aus einer Umfrage in 77 Krankenhäusern vom 27. Februar hervorgeht. Die Bakteriologin Dr. Agnes Wold schrieb auf Twitter: „In den Krankenhäusern herrscht der Notfall mit einem akuten Mangel an Schutzausrüstung, Masken und Desinfektionsmaterial.“

Sozialministerin Lena Hallengren versuchte auf einer Pressekonferenz mit dem Premierminister den Materialmangel zu erklären, indem sie auf „internationale Faktoren“ verwies, u.a. weil Materiallieferungen von ausländischen Herstellern ausgeblieben seien. Sie warf auch den europäischen Ländern mangelnde Zusammenarbeit vor. Die Regierung spreche jetzt mit lokalen Produzenten, aber wieviel Material diese liefern könnten, sei nicht bekannt.

Die Ärztin und Intensivmedizinerin Kajsa Giesecke monierte im Svenska Dagbladet vom 13. März das Fehlen einer zentralen Behörde im schwedischen Gesundheitssystem, die in der Lage wäre, notwendige Entscheidungen zum Ausbau von Intensivstationen zu treffen. Das System für die Notfallversorgung im Kriegsfall sei in den 1990er Jahren abgeschafft worden. „Schweden ist in Bezug auf das Gesundheitswesen ein föderales Land, in dem die Bezirke selbst entscheiden, was sich jetzt nachteilig auswirkt, wenn nationale Ressourcen und Strategien benötigt werden.“ Die staatlichen Behörden „haben kein Mandat, die notwendigen drakonischen Maßnahmen durchzusetzen... Die private Gesundheitsfürsorge verwaltet sich selbst“, schreibt sie und schildert den Zusammenbruch eines Systems, in dem neoliberale Privatisierungen die alten staatlichen Behörden mit Durchgriffsrecht geschwächt hätten. Die Regierung führt praktisch nur den Haushalt und ist zudem politisch sehr schwach. Die Coronakrise macht eine Verfassungskrise sichtbar, weil das gesamte System der Entscheidungsfindung nahezu gelähmt ist.

Das schwedische System zum Schutz der Banken hingegen ist in dieser Krise jedoch sehr effizient. Am 13. März beschloß die Zentralbank, im Rahmen der größten Quantitativen Lockerung in ihrer Geschichte den Banken satte 500 Milliarden Kronen (52 Mrd.$) zur Verfügung zu stellen. Sie stellt sich damit in den Dienst der schwedischen Banken, um diese vor den kurzfristigen Auswirkungen der Corona-Epidemie zu schützen. Die Zentralbank als Exekutivorgan fungiert hier aber weniger im Interesse des Volkes und des Parlaments, sondern unter dem Einfluß korporatistischer Interessen. Die Frage ist: Wird in einem Schweden, das sich in großen Schwierigkeiten befindet, ein ähnlicher Betrag für den medizinischen Kampf gegen das Coronavirus bereitgestellt werden?

 

 

Werden Sie aktiv!

Die Bürgerrechtsbewegung Solidarität erhält ihre Finanzmittel weder durch staatliche Parteienfinanzierung noch von großen kommerziellen Geldgebern. Wir finanzieren uns ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden,

deshalb brauchen wir Ihre Unterstützung!

JETZT UNTERSTÜTZEN