Von Alexander Hartmann
Die diesjährige Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) in New York verlief weniger eintönig als frühere. Am Eröffnungstag hielt US-Präsident Biden seine übliche Tirade gegen die „Autokratien“, die die „Demokratien“ bedrohen, und forderte mehr Waffen für die Ukraine und mehr Krieg, um Rußland zu besiegen, was der ukrainische Präsident Selenskyj, der erstmals in New York anwesend war, voll unterstützte. Biden forderte auch eine „Risikominderung“ gegenüber China. Doch die Vertreter des Globalen Südens setzten wie zu erwarten andere Schwerpunkte: Sie nutzten die Vollversammlung zu einer Abrechnung mit der bisher dominierenden neoliberalen und neokolonialen Politik des Westens.
Als erster setzte der brasilianische Präsident Lula da Silva den Ton und erklärte, daß die Ungleichheit und die mit dem Neoliberalismus verbundene Ungerechtigkeit bekämpft werden müßten. („Die Welt wird immer ungleicher; die zehn reichsten Milliardäre verfügen über mehr Vermögen als die ärmsten 40% der Menschheit.“) Indirekt demontierte er die Behauptungen Washingtons und Londons, sie würden die Freiheit verteidigen, indem er sich u.a. gegen die strafrechtliche Verfolgung von Julian Assange wandte.
Mehrere afrikanische Staatsoberhäupter sprachen sich besonders klar gegen die anhaltende Politik des Neokolonialismus aus. Im Falle von Burundi, der Zentralafrikanischen Republik und Simbabwe hatten alle drei Präsidenten zuvor am jüngsten Rußland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg teilgenommen. Ihre Äußerungen stehen beispielhaft für die veränderte Dynamik in der Welt, insbesondere bei den Nationen des sog. Globalen Südens, die die ihnen diktierte imperiale Politik nicht länger hinnehmen wollen.
Am deutlichsten äußerte sich der burundische Präsident, Evariste Ndayishimiye, der über die Schrecken des Kolonialismus sprach und dann sagte, dies setze sich heute mit dem „Neokolonialismus“ fort, in Form von Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Nationen, unfairer Bezahlung von Rohstoffen und ungerechten Auflagen der Finanzinstitutionen von Bretton Woods (IWF und Weltbank). Ndayishimiye sagte, man habe den Eindruck, daß hinter den verschiedenen Formen der „Entwicklungshilfe“ böswillige Absichten stecken, „sie wuchern nur, um diese Heuchelei zu verschleiern“, während „immer weniger Mittel eingesetzt werden, die wirtschaftliche Erträge versprechen, die einen Aufschwung gewährleisten könnten“.
Ndayishimiye betonte: „Wir sollten wagen, es auszusprechen: Die politische und sicherheitspolitische Instabilität in den Ländern des Südens, insbesondere in Afrika, ist das Ergebnis des Willens der Mächte, die die Innenpolitik der Entwicklungsländer steuern wollen. Besonders Afrika, das zum Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzungen zwischen Großmächten geworden ist, hinkt in seiner wirtschaftlichen Entwicklung noch immer um Jahre hinterher. Und dieses wirtschaftliche Defizit ist die Ursache für die internen Konflikte, die unsere Länder immer noch in extreme Armut stürzen.“
Ähnlich äußerte sich der simbabwische Präsident, Emmerson Dambudzo Mnangagwa, auf seine Weise: „Wir verurteilen aufs Schärfste die Tendenzen einiger mächtiger Länder, die Frieden, Menschenrechte und Demokratie predigen, aber dennoch heimlich Konflikte und verfassungswidrige Regierungswechsel finanzieren, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.“
Er wandte sich scharf gegen die Sanktionspraktiken der westlichen Länder, zumal Simbabwe selbst ein Opfer solcher Sanktionen ist: „Wir verurteilen außerdem den Einsatz einseitiger und illegaler Sanktionen als außenpolitisches Instrument, das wenigen mächtigen Nationen zur Verfügung steht.“ Trotz dieser Sanktionen, so Mnangagwa weiter, „ist das Volk von Simbabwe Herr seines eigenen Schicksals geworden“; so sei sein Land in diesem Jahr ein Nettoexporteur von Weizen geworden.
Auch der Präsident der Zentralafrikanischen Republik, Faustin-Archange Touadéra, verurteilte die geopolitischen Spiele mächtiger Staaten. Die sich verschärfende Migrationskrise aus afrikanischen Ländern „ist eine der schrecklichen Folgen der Ausplünderung der natürlichen Ressourcen von Ländern, die durch Sklaverei, Kolonialisierung, westlichen Imperialismus, Terrorismus und interne bewaffnete Konflikte verarmt sind, welche oft vor dem Hintergrund hegemonialer Ziele und geopolitischer und geostrategischer Spannungen zwischen den großen Weltmächten ausgetragen werden... Heute dauern in Afrika wie auch anderswo Konflikte an, die Symptome geopolitischer und geostrategischer Spannungen sind, die die Großmächte spalten.“
Touadéra sprach auch über die „2030-Ziele“ der Vereinten Nationen zur Überwindung von Hunger, Armut und Ungleichheit und fragte: „Wie kann das verwirklicht werden, wenn bestimmte Staaten von der Höhe ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht herab ständig Zwangsdiplomatie betreiben oder internationale Finanzinstitutionen nutzen, um Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockaden gegen Länder zu verhängen, die durch Sklaverei, Kolonialisierung und Imperialismus arm geworden sind?“
Ob Präsident Biden solchen Ländern mit seiner „Partnerschaft für globale Infrastrukturinvestitionen“ helfen wird? Wetten Sie nicht darauf!
Nach seinen Angriffen auf die Ungerechtigkeiten der heutigen, neoliberalen Weltordnung konzentrierte sich Burundis Präsident Ndayishimiye auf die Frage, welche Richtung eingeschlagen werden muß, um die Länder der Welt in einem Geist wahrer Solidarität zu verbinden. „Es ist an der Zeit, wieder eine friedliche und fortschrittsfreundliche Welt aufzubauen“, sagte er - und verkündete damit implizit das Ende einer Ära. Werte wie Vertrauen und Solidarität, die „die Beziehungen zwischen unseren Staaten kennzeichnen sollten“, seien geschwächt worden. „Wir müssen sie befreien“, damit diese Werte „ihre ursprüngliche Bedeutung wiedererlangen“.
Ndayishimiye sagte sogar, im Grunde sei der Kolonialismus eine verpaßte Chance gewesen, „weil er durch das Zusammentreffen von Kulturen und Know-how und durch eine für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft - statt einer Partnerschaft der Abhängigkeit - Solidarität hätte schaffen können“.
Die Welt müsse heute „hinausgehen über die Bedürfnisse und Interessen der Staaten…, die oft voneinander abweichen und schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Die internationale Solidarität muß gewährleisten, daß alle Länder gleichberechtigt miteinander umgehen können. Die internationale Solidarität, die wir anstreben, soll nicht alles gleichmachen, sondern eine Brücke zwischen Unterschieden und sogar Divergenzen sein, die durch gegenseitig respektvolle und vorteilhafte Beziehungen verbindet.“
Er betonte: „Die internationale Solidarität sollte natürlich die Industrieländer ermutigen, einen konkreten Beitrag zu den sozioökonomischen Entwicklungsbemühungen der am wenigsten entwickelten Länder zu leisten.“ Er zitierte ein kirundisches Sprichwort: ntawutungira mu boro - „Wohlstand ist nur dann von Dauer, wenn er geteilt wird.“ Dies „erinnert uns daran, daß Investitionen in den Wohlstand des Nachbarn tatsächlich die Sicherheit und Nachhaltigkeit des eigenen Fortschritts garantieren.“
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz ergriff das Wort und versuchte, mit schönen Worten Unterstützung für eine Reform der UN zu gewinnen. Die „Blockade einiger weniger“ - damit waren offenbar Rußland und China gemeint - dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, „daß wir, die ganz große Mehrheit der Staaten, uns in vielem einig sind“.
Gleichzeitig sei es auch notwendig, daß die UN die Realität einer multipolaren Welt abbilden: „Bisher tun sie das nicht ausreichend. Nirgendwo ist das so augenfällig wie bei der Zusammensetzung des Sicherheitsrats“, so der Kanzler. Klar sei, daß Afrika, Asien und Lateinamerika mehr Gewicht haben müßten. Scholz plädierte daher für „ergebnisoffene Verhandlungen“ über eine Reform der Vereinten Nationen. So wie Deutschland, solle auch kein Land diese Verhandlungen mit Maximalforderungen blockieren.
Tatsächlich richtet sich dieser Vorstoß allerdings nicht zuletzt gegen das Vetorecht der ständigen Mitgliedstaaten des Sicherheitsrats, mit dem China und Rußland immer wieder verhindert haben, daß die UN von den westlichen Mächten - insbesondere USA und Großbritannien - als eine Art Stempelkissen mißbraucht wird, um ihre Interventions- und Sanktionspolitik abzusegnen. Faktisch machte sich Scholz also, wie schon so oft, zum Sprachrohr des „großen Bruders“, was viele wohl auch nicht anders erwartet hatten: Während seiner Rede konnte man angesichts der gähnenden Leere im Saal statt von einer Vollversammlung eher von einer Leerversammlung reden.
Mehr Zuhörer hatte eine temperamentvolle, von einem 25-köpfigen Chor angeführte Menge von 70 Personen, die draußen vor dem UN-Gebäude mit Reden und Gesängen für den Frieden und für die Ideen, Vorschläge und Visionen der internationalen Friedenskoalition „Humanity for Peace“ demonstrierten. Sprecher waren u.a. der Produzent des Hiroshima-Films 8:15, J.R. Heffelfinger, und die US-Senatskandidatin Diane Sare.
Das Motto der Kundgebung - „Sie müssen handeln, um den Weltfrieden zu erhalten!“ - war auch der Titel eines Offenen Briefes von Helga Zepp-LaRouche an die bei der Vollversammlung versammelten Staatsoberhäupter. Dieser Offene Brief, Zepp-LaRouches „Zehn Prinzipien für eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur“ sowie die neue Broschüre des Schiller-Instituts „Der Kolonialismus ist vorbei“ werden im Rahmen dieser Debatte weit verbreitet. Ein Dutzend führender Teilnehmer der von Zepp-LaRouche initiierten Internationalen Friedenskoalition aus fünf Ländern schickten Botschaften an die Kundgebung.
Sie finden den „Offenen Brief“ von Helga Zepp-LaRouche >hier< – helfen Sie mit, ihn zu verbreiten!